Kosovo

Droht Europa ein zweites Palästina?

Nachdem am Wochenende in Pristina bei einer Protestkundgebung mehrerer Tausend Kosovo-Albaner gegen den Ahtisaari-Plan zwei Demonstranten getötet wurden, steigt die Angst vor einer Zuspitzung der Lage. Die Wut vieler Kosovo-Albaner richtet sich jetzt gegen die eigenen Politiker.

Zur Demonstration vom Samstag hatte die Bewegung "Vetevendosje" ("Selbstbestimmung") aufgerufen, welche die sofortige und vollständige Unabhängigkeit des Kosovo fordert. "Vetevendosje" lehnt jegliche Verhandlungen mit Serbien ab und bezeichnet die seit 1999 bestehende UN-Übergangsverwaltung im Kosovo (Unmik) als "Besatzungsmacht". "Kosovo ist unser Land, wir sind zu keinen Konzessionen bereit", machte "Vetevendosje"-Führer Albin Kurti die Position seiner Bewegung, der nach eigenen Angaben 10.000 Mitglieder angehören, unmissverständlich klar. Als die zunächst friedliche Kundgebung gegen den Ahtisaari-Plan eskalierte, wurden bei stundenlangen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei zwei Personen getötet und etwa 80 verletzt. Der kosovarische Innenminister Fatmir Rexhepi trat daraufhin "aus moralischen Gründen" von seinem Amt zurück.

Die gewaltsamen Proteste vom Samstag haben auf schmerzhafte Weise ans Licht gebracht, wie instabil die aktuelle Lage im Kosovo ist. "Sie kann sich innerhalb von wenigen Minuten ändern", warnt Ibrahim Rexhepi in der Tageszeitung "Lajm". Obwohl sich die meisten Menschen im Kosovo bewusst sind, dass sie der Unabhängigkeit noch nie so nahe waren wie jetzt, nimmt die Kritik am kosovarischen Verhandlungsteam und an den kosovo-albanischen Politikern ganz allgemein an Schärfe zu. "Mörder" titelte die Tageszeitung "Epoka e Re" am Montag in riesigen Lettern über einem Bild mit allen führenden Politikern.

Viele Kosovo-Albaner beschuldigen die Polit-Elite, indirekt für die Gewalteskalation vom Wochenende verantwortlich zu sein. Der Vorwurf wird immer lauter, die Politiker hätten den Kontakt zum Volk und das Gespür für die Probleme des "einfachen Mannes" verloren und würden sich stattdessen durch Korruption und Vetternwirtschaft bereichern. Agron Bajrami, Chefredakteur der angesehenen Tageszeitung "Koha Ditore" beschreibt es so: "Wir haben zugelassen, dass Extremisten, Populisten und Profiteure, die materielle und Parteiinteressen verfolgen und dubiosen Geschäften nachgehen, unseren künftigen Staat formen."

Zudem rächt es sich nun, dass das kosovarische Team während der Wiener Statusverhandlungen die Bevölkerung viel zu wenig über den Fortgang der Gespräche informierte und deren Resultate kaum erklärte. Stattdessen versteifte sich die Politik einzig und allein auf das Schlüsselwort "Unabhängigkeit". Jetzt, wo dieses Wort in Ahtisaaris Vorschlag zur Zukunft des Kosovo fehlt, macht sich in breiten Kreisen Unsicherheit breit. Verbunden mit dem Misstrauen in die eigenen Politiker und dem täglichen Überlebenskampf hat sich eine gefährliche Mischung aus Frustration und Ungeduld zusammengebraut, die jederzeit wieder zu einer Explosion wie am vergangenen Samstag führen kann.

37 Prozent der rund 1,9 Millionen Kosovaren müssen nach Angaben der Weltbank mit 1,50 Euro pro Tag oder weniger auskommen, fast die Hälfte ist arbeitslos."'Vetevendosje' spielt genau mit dieser Enttäuschung und der wachsenden Ungeduld der Leute, die in den letzten Jahren viel gelitten haben und sich betrogen fühlen", sagt Arjeta Mullaavda, die die Ausschreitungen in Pristina am Rande miterlebt hat. Kurtis Bewegung, die Gewaltanwendung in der Vergangenheit nicht ausgeschlossen hatte, kündigte bereits weitere Kundgebungen an. Agron Bajrami dagegen warnte, es müsse nun alles dafür getan werden, dass das Kosovo nicht anstatt zu einem europäischen Staat zu einem zweiten Palästina werde.

Beobachter, darunter auch die Experten der International Crisis Group, sind sich einig, dass dies nur mit einer schnellen Entscheidung über den künftigen Status des Kosovo geschehen kann, um so der großteils verunsicherten und frustrierten Bevölkerung mehr als sieben Jahre nach dem Krieg endlich eine klare Perspektive zu geben.


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