Ganz Tschechien ist eine Sozialwohnung
Im Stile eines Schwejk versucht die Prager Regierung Brüssel auszutricksenPrag (n-ost) - Wer sich die jüngst von der tschechischen Regierung beschlossenen Eckdaten für den sozialen Wohnungsbau ansieht, wird sich die Augen reiben: Die großzügigen Bedingungen lassen darauf schließen, dass in unserem Nachbarland fast jeder Einwohner in einer Sozialwohnung lebt. Die Regierung verfolgt mit ihrem Plan jedoch vor allem das Ziel, dass im Wohnungsbau auch ab dem nächstes Jahr noch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt. Mit diesem Vorschlag nach Schwejkscher Tradition versucht man die Brüsseler EU-Behörde auszutricksen.Nach der neuen tschechischen Richtlinie fallen unter die Bezeichnung Sozialwohnung alle Wohnungen mit einer Größe von bis zu 120 Quadratmetern und alle Einfamilienhäuser mit einer Größe von 350 Quadratmetern. Damit würde fast ganz Tschechien in einer Sozialwohnung leben. Grund für die Maßnahme ist eine EU-Vorschrift, nach der alle Bauleistungen im Wohnungsbau mit 19 Prozent zu besteuern sind. In Tschechien gilt derzeit noch ein Mehrwertsteuersatz von fünf Prozent. Die mit der EU ausgehandelte Übergangsfrist endet zum 31. Dezember 2007.Das nahende Ende dieser Frist hatte in Tschechien in den letzten Jahren einen unvergleichlichen Bauboom ausgelöst. So wurde das hohe Wachstum in der Baubranche entscheidend vom Wohnungsbau getragen. Dazu kam die gestiegene Nachfrage nach Eigentumswohnungen aufgrund langfristig niedriger Hypothekenzinsen.Mit der nun vorgenommenen äußerst großzügigen Definition von sozialem Wohnungsbau will Tschechien nun zumindest für Teile der Bauleistung den günstigeren Mehrwertsteuersatz auch nach 2008 aufrechterhalten. Der aktuelle Plan bewegt sich zwischen den beiden Entwürfen der Vorgängerregierungen. Während der sozialdemokratische Finanzminister Bohuslav Sobotka Obergrenzen von 90 Quadratmetern für Wohnungen und 150 Quadratmetern für Einfamilienhäuser empfahl, ging dessen Nachfolger Vlastimil Tlustý dreist nach dem Prinzip: Alles was Wohnung heißt, ist sozial. Die jetzige Variante erinnert sehr an den Tlustý-Entwurf, gibt sich nur etwas diplomatischer.Voraussetzung für die Umsetzung des Plans ist, dass die Europäische Kommission bei diesem an Schwejk erinnernden Streich mitspielt. Finanzminister Miroslav Kalousek verweist dabei auf die Richtlinien der Europäischen Union. "Die EU-Staaten haben die Möglichkeit, eine unbefristete Ausnahme zu erhalten, wenn sie sich auf den Wohnungsbau bezieht, der Teil der Sozialpolitik ist", sagte Kalousek vor Journalisten. Die Definition wiederum, was sozialer Wohnungsbau ist, liegt in der Hoheit der einzelnen Mitgliedsstaaten. Ondrej Jakob, Sprecher im Finanzministerium, ist daher sehr zuversichtlich, dass der Plan, so wie er jetzt vorgeschlagen wurde, in Brüssel angenommen wird.Ziel des sozialen Wohnungsbaus ist es, Wohnungen für die Teile der Bevölkerung zu errichten, die sich keine "normalen" Wohnungen leisten können. In Tschechien wird diese Relation nun offensichtlich umgekehrt. Experten gehen davon aus, dass 97 von 100 Wohnungen, die gegenwärtig gebaut werden, unter die Kategorie "sozial" fallen. Ähnliche Zahlen nennen auch Immobilienentwickler. "Die Einfamilienhäuser, die wir gerade bauen, sind alle kleiner als 350 Quadratmetern. Bei den Wohnungen bleiben etwa 90 Prozent unter der Grenze", erklärt Miluše Netolická, Sprecherin des Developers Central Group. Sie hält den Vorschlag der Regierung für sehr vernünftig und hofft auf seine baldige Umsetzung, damit die bestehende Unsicherheit beendet wird.Laut Statistikamt CSÚ liegt die durchschnittliche Größe einer neu gebauten Wohnung in Tschechien bei 105 Quadratmetern. Wohnungen in Eigenheimen erreichen dabei im Durchschnitt eine Größe von 152 Quadratmetern, während Wohnungen in Wohnhäusern im Durchschnitt 67 Quadratmeter groß sind. Einen kleinen Haken hat der Regierungsplan über den sozialen Wohnungsbau aber doch: "Wenn nur eine Wohnung in einem Wohnhaus größer als 120 Quadratmeter ist, unterliegt der Bau des gesamten Wohnhauses dem höheren Mehrwertsteuersatz", macht Ministeriumssprecher Jakob gegenüber dieser Zeitung deutlich. Bei einem Verkauf greift jedoch wieder der soziale Faktor, denn dann können Wohnungen, die kleiner als 120 Quadratmeter sind, mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt werden, stellt Jakob das Schwejksche Weltbild wieder her.
InfokastenRobustes Wachstum am BauIn Tschechien wird für 2006 mit einem Wachstum der Bauproduktion um 6 Prozent gegenüber 2005 gerechnet. In den ersten neun Monaten war die Bauleistung um 5,4 Prozent gestiegen - Tendenz steigend. Im Wohnungsbau stieg die Zahl der in Bau befindlichen Einheiten im gleichen Zeitraum um 8,6 Prozent auf 168.941. Neu wurde der Bau von 31.905 Einheiten gestartet. Das entspricht einem Plus von 6,5 Prozent. Die fertig gestellten Einheiten gingen dagegen um 13,5 Prozent auf 18.166 Einheiten zurück.
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Steffen Neumann
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