Polen

Die Entdeckung der Schnelligkeit

In Polen wurde Handball während der WM in Deutschland zum VolkssportWARSCHAU (n-ost). Es dürfte schon eine Weile her sein, dass die älteste Zeitung Polens, die „Przeglad Sportowy“ (Sportrundschau), Handball auf der ersten Seite hatte. Seit dem Sieg über den ungeliebten Nachbarn Russland im Viertelfinale der Weltmeisterschaft ist die neu entdeckte Sportart allerdings der tägliche Blattaufmacher. Und der Finaleinzug der „Rotweißen“ ist der größte Erfolg in der Geschichte des polnischen Handballs, die reich an Anekdoten ist: Zum Beispiel, dass diese Sportart im polnischen Volksmund den zungenbrecherischen Namen „Szczypiorniak“ trägt, nach dem westpolnischen Dorf Szczypiorno, wo im Ersten Weltkrieg ein deutsches Lager für 4.000 polnische Kriegsgefangene stand, die dort die Regeln des Handballspiels erlernten. Am Sonntag haben die Polen nun die Möglichkeit, ihren einstigen Lehrmeistern zu zeigen, wer der Bessere ist - im Endspiel der Handballweltmeisterschaft in Köln, in dem die Polen nach einem dramatischen Halbfinale gegen Dänemark (36:33) mit zweimaliger Verlängerung stehen. Und schon jetzt steht fest, dass diese Begegnung im patriotischen Polen ein Straßenfeger wird, wenngleich Handball vor wenigen Tagen hier noch eine Randsportart war: Bis Polen den Gastgeber Deutschland – als bisher einzige Mannschaft – in der Vorrunde schlug. Noch im September fand ein Sieg zuhause, im provinziellen Kielce, in einem Freundschaftsspiel über die Deutschen (34:29) fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Denn Handball wird meist auf einem der privaten Spartenkanäle, wie etwa Polsat Sport,  übertragen. Aber seit dem Sieg über die Deutschen bei der WM in Halle/Westfalen läuft Handball in öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und selbst auf den zahlreichen Monitoren der Warschauer Szene-Kneipen. Wie etwa im Bistro „City“, in der Ulica Nowowiejska, wo sich in den Fernsehern für gewöhnlich halbnackte Frauen zu den Rhythmen von schnell geschnittenen Music-Clips bewegen, in der Kulisse einiger erfolgreicher Großstädter, die dabei ihr Feierabendbier schlürfen. Schon jetzt sind die meisten Plätze in den angesagtesten Kneipen der Stadt für Sonntag reserviert. Auf einmal ist Handball massentauglich. Die Zeitungen beeilen sich, dem nach zu kommen. Wie die „Gazeta Wyborcza“, die anhand einer aufwändigen Grafik nach dem Viertelfinale auf ihrer kompletten Rückseite das Regelwerk erklärte.Der Handball kam zur rechten Zeit über Polen. Die Winterpause im Fußball dauert noch einen Monat an, und ansonsten gibt es nur Fortlaufendes über die Korruption im Fußball zu berichten, der einen heftigen Streit mit dem Fußballweltverband FIFA nach sich zieht. Oder über die angebliche Geheimdiensttätigkeit von Piotr Nurowski, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees. So also kommt der Handball auf einer perfekten Welle daher. Die Tageszeitung „Dziennik“ kommentierte: „Dieser Erfolg wird wohl der erste Schritt für die größere Entwicklung dieser Sportart sein“.Immerhin stehen die Polen nicht ohne Grund im Finale der Handball-WM: Ausschlaggebend dafür waren wohl der wuchtige Rückraum und die überragenden Reflexe von Torwart Slawomir Szmal, der im Halbfinale gegen die Dänen am Ende den Unterschied ausmachte. Die Bewunderung für seine Klasse mischt sich in Polen allerdings mit der Unkenntnis der Sportberichterstatter: In einem Artikel des „Dziennik“ wird ernsthaft darüber spekuliert, bei welchem polnischen Fußballverein Torwart Szmal mehr Geld verdienen könnte als beim Handball-Bundesligisten Kronau/Östringen, wo er für 5000 Euro Monatsgehalt das Tor hütet: „Slawomir könnte zwar nicht auf dem Niveau von Chelsea London spielen, ganz sicher aber bei Zaglebie Lubin in der ersten polnischen Liga, wenn er ein paar Monate dafür trainiert“.Die Weltklasse zeigt sich aber auch bei den polnischen Rückraumschützen: Marcin Lijewski, Linkshänder der SG Flensburg und die beiden Magdeburger Karol Bielecki und Grzegorz Tkaczyk dürften nach der WM – egal wie das Finale ausgeht – mit einigen Werbeverträgen in ihrer eigentlichen Heimat rechnen. Ihr Trainer, Bogdan Wenta, hat in seiner aktiven Zeit übrigens für Deutschland gespielt; unter seinem deutschen Kollegen Heiner Brand wurde er selbst Bronzemedaillegewinner bei der Europameisterschaft 1998. Und weil die Parallelen des Handball-Wintermärchens 2007 mit dem Fußball-Sommermärchen 2006 in Deutschland viel zitiert werden, sei auch dieser Hinweis erlaubt: Für die meisten Polen soll das Finale am Sonntag so etwas wie die Revanche sein, für das verlorene Spiel bei der Fußball-WM gegen Deutschland in Dortmund (0:1, aus polnischer Sicht). Denn in Polen funktioniert – wie gesehen – der Vergleich zwischen Handball und Fußball problemlos.Ende--------------------------------------------------
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