Mazedonien

Ewige Gegenwart

"Ewige Gegenwart" erzählt von Liebe als Spiel und als Überraschung. In diesem Roman des jungen mazedonischen Schriftstellers Vladimir Jankovski bleibt jeder der Geliebten ein Rätsel, das der Andere zu lösen versucht. Die Stadt Skopje wird zu einer Person, einem urbanen Körper, auf dem sich das Spiel der Liebenden entfaltet.

Erster Teil: Die Entscheidung des Würfels

1.
Viktor lernte Angela an dem Ort kennen, an dem er schon immer jemanden hatte kennen lernen wollen: am Flughafenterminal.

Als er sie im Restaurant des Skopjer Flughafens sah, begriff er sofort, dass sie nicht gekommen war, um irgendwohin zu verreisen oder um jemanden abzuholen. Das wusste er, da auch er selbst nicht gekommen war, um irgendwohin zu verreisen oder um jemanden abzuholen. Er war aus einem simplen Grund zum Flughafen gekommen: Er liebte die Busstationen und Bahnhöfe, die Flughafenterminale. Orte des Abreisens und des Ankommens. Orte, an denen man in den Gesichtern der Menschen die Spuren ihrer Reisen lesen kann. Das Verschwinden einer Welt und die Ankunft einer anderen.

Sie saß am Tisch, mit der rechten Hand zerknautschte und zerknickte sie zum hundertneunundsechzigsten Mal den armen Plastikbecher, dessen Lebensaufgabe es war, den vor mehr als vierzig Minuten bestellten Macchiato zu hüten.

Normalerweise sprach er Fremde nicht an.

Nun tat er das Gegenteil.

[…]


18

„Wenn er eine 1 zeigt, dann gehen wir zum Graffiti ‚Erlaubt den tausenden und abertausenden Antennen, aufzublühen‘; 2 und 3 sind für das Dach des Einkaufszentrums; wenn er eine 4 zeigt, werden wir uns nie mehr wiedersehen; wenn er 5 oder 6 zeigt, fahren wir zur katholischen Kirche und beginnen damit, den Atem der umliegenden Sträßchen aufzunehmen.“

Sie begannen in der Straße des 29. Oktober. Mit eingeschaltetem Aufnahmegerät und ohne zu sprechen liefen sie und zeichneten dabei auf. Sie sammelten die Geräusche der Stadt.
Bevor sie sich trennten, erzählte sie ihm, dass sie eine Sammlung von Geräuschen aus sechzig Weltstädten besitze. Immer, wenn einer ihrer Bekannten aus Skopje verreist sei, habe er die Aufgabe bekommen, wenigstens eine Stunde lang die Geräusche der Stadt aufzunehmen, in der er sich aufhielt. Es seien alltägliche Geräusche, erhascht, während ihr Aufzeichner durch Straßen und Grünanlagen der Stadt spazierte, Geräusche aus Einkaufszentren, Untergrundbahnen, von Hotelbalkons und aus Korridoren, aus Bahnhofs- oder Flughafenwartesälen.

Fortan waren die aufgezeichneten Geräusche fester Bestandteil ihrer Treffen.

„Etwas wie verreisen, ohne die Wohnung zu verlassen.“

Sie lauschten ihnen in Angelas abgedunkelter Wohnung und sagten nichts, während sie die kleinen Rituale ihrer gemeinsam verbrachten Zeit ausführten.

Sie aßen zu den Geräuschen Tokios, und ihre nackten Leiber vermischten sich zum Lärm des Teheraner Basars auf dem Teppich. Während eine Frauenstimme die Flugzeuge ansagte, die auf dem Flughafen Charles de Gaulle landen sollten, betrachteten sie einander. Dem Frühsommer hingegeben lagen sie auf dem Bett, und um sie herum breitete sich der Lärm eines Strandes in Malaga aus. Während im Schlafzimmer die Londoner Metro dröhnte, schliefen sie ein, jeder in einem anderen Teil des Bettes. Zu den Geräuschen des Lyoner Zoos erlernten sie die stummen Blicke des anderen. Im ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus des Saloniker Bahnhofs entdeckten sie Muttermale auf ihren Körpern. Sie hörten das Atmen des anderen vermengt mit den synkopierten Geräuschen des Stuttgarter Rotlichtviertels.

Sie gewöhnten sich daran, dass das, was sie taten, von den Stadtgeräuschen abhing, die gerade die Wohnung besiedelten. Nach einiger Zeit konnten sie nur noch in der Stille des unbekannten Tokioter Parks essen. Bekleidet zu sein, wenn die Geräusche Budapests aus den Lautsprechern drangen, war für sie unvorstellbar geworden. Sie genossen die Distanz ihrer Körper, während Kairo um sie herum gellte. Die Geräusche modellierten ihre Bewegungen; ihre Berührungen liefen im Chaos des Esfahaner Basars auf eine bestimmte Art ab, im Chaos des Zagreber Markts auf eine ganze andere. Zu den friedlichen Geräuschen der Gassen Dubrovniks duschten sie, vom Tosen der unbekannten Straßen Hamburgs umgeben schauten sie mit ausgeschaltetem Ton Fernsehen. 

In diesen Tagen war das Schweigen für sie eine so selbstverständliche Ausdrucksform, dass jedes gesprochene Wort, in der Wohnung oder draußen, dem Erlernen eines neuen Alphabets glich. Die Erinnerung bewahrte diese Tage wie eine Serie von Fotografien auf. 

Fotografien, Orte, an denen die Wörter von Bildern überwunden worden sind.

Zum Fotoessay von Ivan Blazhev "SKOPJE WITH EYES WIDE OPEN"

Er auf einer verstümmelten Bank im leeren Park sitzend, ihre Fußzehen werden vom Mond beleuchtet. Er berührt ihr Gesicht, zwischen ihnen fällt ein Glas mit orangener Flüssigkeit um. Eine Frau zögert, auf den Zebrastreifen zu treten, die Straße ist wie leergefegt, die Sonne stark, die Frau öffnet einen Schirm, Angela und Viktor lugen aus dem Eingang des gegenüberliegenden Gebäudes hervor. Eine zahnlose Bank, auf der Bank redet Angela, dahinter eine große Trauerweide mit rot gefärbtem Stamm. Im Zimmer, eingeschalteter Fernseher, ihr Zeigefinger spaziert auf seinem Rücken, im ganzen Raum verstreut gebrochene Blumen. Vor dem Schaufenster eines Geschäfts, sie reden, zwischen ihnen stürzt ein Papierflieger ab. 

Im Einkaufszentrum, mit der einen Hand bedeckt sie seine Augen, in der anderen hält sie einen gigantischen gelben Umschlag. Ihre Hand streckt sich nach seinem Gesicht aus, im rechten Winkel bremst ein Autobus scharf ab. Auf dem Vodno, sie betrachten die Stadt, von der Kante des metallenen Mülleimers aus betrachtet sie ein rosafarbener Plastikbecher.
Im alten Basarviertel, ihre Hand ruht wie ein kleines Männlein auf seiner Schulter, vor ihnen springt gerade eine unnatürlich verrunzelte Greisin mit ausgespanntem Schirm dreißig Zentimeter hoch über das Pflaster. In der Roosevelt-Straße, ihre Füßen treten auf eine männliche und eine weibliche Silhouette, die mit violetter Kreide auf den Asphalt gezeichnet sind. 

Ein Feuerzeug, ein Aschenbecher, eine zerknüllte Busfahrkarte, eine Hand, die bald den Oberarm des anderen ergreifen wird. 

Sie liegt in Embryohaltung auf dem Fußboden, er steht mit einem Glas Milch in der Hand über ihrem Kopf. Auf einer Parkbank, Angela hat die Augen geschlossen, aus ihrem Mund kommt eine große rote Lilie. Eine halb aufgerauchte Zigarette, der Zeigefinger berührt den Schwanz der Katze, die Viktor anstarrt. 

In der Küche, er blickt ihr in die Augen, sie hat die Brotkrümel so angeordnet, dass sie zwei Worte bilden. Sie nackt vor dem Spiegel, an der Stelle der linken Brust presst sie eine verfaulte Orange zusammen. 

Eine Reklametafel für Mineralwasser, ein Radfahrer an der Ampel, ein unten auf dem Bürgersteig abgestelltes Diktafon mit gedrückter Play-Taste, sie hat den Zeigefinger ans rechte Augenlid gelegt. In einer Galerie, ein großer Pfeil ist auf den Fußboden gemalt, vor einem Gemälde steht ein mit einem Mohrrübenkostüm bekleideter Mann, ernst wendet sich Angela Viktor zu. Im vom Fernseher beleuchteten Zimmer, sie hat die Lippen ans Aquarium gedrückt, das neugierige rote Fischlein versucht, in ihren Mund zu schwimmen. Im vom Fernseher beleuchteten Zimmer, sie spricht, er beobachtet den Sperling auf der Fensterbank. 

In der Küche, er berührt das Glas Saft, sie hat mit Brombeermarmelade etwas auf den Pfannkuchen vor ihr geschrieben. Auf dem freien Platz vor der medizinischen Mittelschule, Angela kauft ein Hörnchen, neben der Imbissbude rote Handschuhe, der kleine Finger zeigt gen Himmel, Viktor blickt in die entgegengesetzte Richtung, zum aufgerauten Asphalt. Sie unterhalten sich vor dem Schaufenster eines Geschäfts, die verschwommenen Widerspiegelungen auf dem Glas imitieren ihre Reaktionen, nur ein aufmerksames Auge bemerkt, dass sein Gesicht etwas gesprungen ist. Abends, sie sitzen im Auto und hören dem Regen zu. 

In einem Restaurant, Angela salzt das Essen, auf dem Nachbartisch eine Kinderfotografie, von einer greisen Hand gehalten, Viktor stellt sich darauf ein, lange zu schweigen.
Im vom Fernseher beleuchteten Zimmer, die Hand ruht sich auf dem nackten Bauch aus, die umherliegenden Kleider bilden eine Vogelscheuche. 

Noch lange danach glaubte Viktor, ihre Geschichte ereigne sich in einer ewigen Gegenwart. 

[…]

Zum Fotoessay von Ivan Blazhev "SKOPJE WITH EYES WIDE OPEN"

Zweiter Teil: Ewige Gegenwart

1.

Sie ruft ihn an und sagt ihm, dass sie in dreißig Minuten vor der Architektonischen Fakultät  auf ihn warten werde. 

Als er am vereinbarten Ort eintrifft, sieht er sie ungeduldig um die Bushaltestelle kreisen. In Händen hält sie einen Kartonzylinder. Ein Beweis, dass sie etwas für ihr vorbereitet hat. Er weiß, was folgen wird. Es bleibt ihm nichts übrig, als sich mittreiben zu lassen. Er fragt sie, ob er vielleicht die Augen schließen soll. 

Sie lächelt. Für sie ist das eine geistreiche Bemerkung. Für ihn ist es ein ernsthaftes Dilemma. Sie gehen zum Nebenhof der Fakultät. Dann biegen sie links ab und bleiben vor der Rückwand der Bibliothek „Gebrüder Miladinov“ stehen. 

Angela nimmt den Plastikdeckel vom Kartonzylinder. Der Deckel ist rot, der Zylinder gelb, Viktor versucht sie sich dabei vorzustellen, wie sie den halben Tag lang auf der Suche nach dieser Kombination durch die Stadt gelaufen ist. Die ganze Zeit überzeugt davon, dass auch diese Details für ihre Idee wichtig sind. Aus dem Zylinder zieht sie einen Bogen Papier, ungefähr 70 Zentimeter breit, etwas länger als zwei Meter. Auf eine Seite ist ein Text gedruckt. Auf der anderen sind Klebestreifen. 

Sie sagt ihm, er solle die Augen schließen. 

„Hab ich’s doch gewusst“, erwidert er ihr.

Behutsam und sorgfältig hängt sie den Bogen an die Mauer der Bibliothek. 

Einen Brief, den sie ihm am Morgen geschrieben hat.

Den größten Brief, den er jemals bekommen hat.

Sie umarmt ihn von hinten und beginnt, vorzulesen. Viktor wendet den Blick zur Seite, um sich nur auf die Worte zu konzentrieren. Statt zu schauen, stellt er sich lieber vor, wie sie die Laute mit den schwarzen Buchstaben auf dem Blatt verbindet.

Nach dem Ende der Lesung hat er nichts hinzuzufügen. Sie zählt die Situationen, die dieser hier ähnlich gewesen sind. Bei der siebzehnten Erinnerung gibt sie auf. 

Sie bleiben so in der Stille der Umarmung stehen, ganz dem vor ihnen hängenden Text hingegeben. 

Danach laufen sie durch die Sträßchen der Umgebung. 

Er auf das konzentriert, was sich ereignet, sie auf die nächste Szene, die sie für ihn gestalten möchte.

Sie verabreden, an mehreren Orten in Skopje solche Botschaften aufzuhängen. An den anderen gerichtet, aber gleichzeitig auch offen für alle zufälligen Passanten. Sie fangen sofort an, in der Borko-Talevski-Straße, wo ihnen die Idee gekommen ist. Und auch die nächsten paar Stunden verbringen sie damit, den Plan zu realisieren. 

Auf große Bögen schreiben sie Botschaften, fahren auf der Suche nach einem geeigneten Ort für das Aufhängen der Bögen durch die Stadt, und wenn sie sich geeinigt haben, dass eine Stelle attraktiv ist, hängen sie sie auf. Danach umarmt derjenige, der die Botschaft geschrieben hat, den anderen von hinten und liest sie vor. Wenn sie fertig sind, verlassen sie den Ort, um einen neuen zu suchen. 

Nach zwölf aufgehängten Botschaften beschließen sie, aufzuhören.

Angela schlägt vor, zurückzufahren und nachzusehen, ob die erste Botschaft, die sie aufgehängt haben, noch da ist.

Sie parken in dem Sträßchen, von dem aus die Rückwand der Bibliothek zu sehen ist. Viktor liest das Schild an dem Gebäude, vor dem sie das Auto angehalten haben: Antonio-Grubišić-Straße. Auf einem Fahrrad gleitet ein dreißigjähriger Mann in weißem Trainingsanzug am Auto vorbei. Er fährt direkt am aufgehängten Brief vorüber, blickt ihn kurz an und fährt weiter, ohne ihm Beachtung zu schenken. In den nächsten dreißig Minuten kommen noch ein paar Leute vorbei. Alle teilen das Interesse des Radfahrers. Präzise abgemessen beträgt das durchschnittliche Interesse an Angelas Brief an der Wand 2,54 Sekunden. Sie sind sich einig, dass das Resultat identisch wäre, wenn sie auch die anderen Orte besuchten, an denen sie die Briefe aufgehängt haben. 

Zu Beginn sind sie enttäuscht, weil das, was für sie ein Wiedererkennungszeichen und Zugang zu einer eigenen Welt war, für alle anderen nur eine weitere unscheinbare Verzierung einer grauen Skopjer Fassade ist. Doch dann begreifen sie, dass sie sich gar nichts Besseres vorstellen können, als die Besitzer einer Sprache zu sein, die für die anderen nicht nur uninteressant ist, sondern auch unsichtbar; nichts Besseres, als Gefangene in einer Welt zu sein, die nur für sie aufregend ist.



Aus dem Roman "Ewige Gegenwart" von Vladimir Jankovski. Übersetzung aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer. Mit freundlicher Genehmigung von TRADUKI.


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