Spuren in der großen Leere
Jüdisches Leben in Europas Kulturhauptstadt Sibiu findet nicht mehr in der Synagoge, sondern in Archiven, Museen und auf dem Friedhof stattSibiu (n-ost) - Adolf Zimmermann schaut nach Jerusalem. Er sitzt in der ersten Bank der Hermannstädter Synagoge, Platz 17. Sein Name ist, eingraviert in eine Metallplakette, ins dunkle Holz der engen Bank geschraubt. Er trägt seinen Tallit um die Schultern. Neben ihn, Platz 19, rückt Eduard Ellasz. Auf Platz 21 hockt Lukacs Aladar. Die drei Männer blicken zum Thoraschrank vor ihnen; die Heilige Lade, nach Osten ausgerichtet, ist mit einem weißen Vorhang verhüllt. Gleich beginnt das Schabbosgebet.So muss es gewesen sein, als die Juden noch so zahlreich im siebenbürgischen Hermannstadt lebten, dass es ein leichtes war, zehn Männer zusammen zu bekommen, ohne die ein jüdischer Gottesdienst nicht beginnen darf. Heute zählt die fragile Gemeinde 41 Mitglieder und sie hat die Erlaubnis, das Pergament der Thora bereits dann aufzurollen, wenn sechs Männer zum Gebet erscheinen."Stadt der Kulturen" - unter diesem Motto präsentiert sich Europas diesjährige Kulturkapitale Sibiu/Hermannstadt. Die winzige jüdische Gemeinde in der rumänischen Stadt will sich im Sommer mit dem Euro-Judaica-Festival am Programm beteiligen. Dabei gleicht das jüdische Leben Sibius einer Blume, die langsam verwelkt.Besonders groß war die jüdische Gemeinde in Sibiu, wie die Stadt auf Rumänisch heißt, nie. Zwar tauchen in den Zollregistern und Steuerbüchern von 1685 bereits jüdische Namen auf, aber erst spät, Mitte des 19. Jahrhunderts, dürfen sich Juden überhaupt innerhalb der Stadtmauer ansiedeln. 1841 schreibt die Stadtzeitung "Transsilvania": Die Anwesenheit der Juden ist schädlich, sie destillieren Branntwein, handeln mit alten Kleidern und sind Zinswucherer.
Sibius winzige jüdische Gemeinde möchte im Jahr der Kulturhauptstadt an früheres jüdisches Leben in der Stadt erinnern. Foto: Grit Friedrich"Die Sachsen haben verhindert, dass Juden eine vielfältige ökonomische Tätigkeit in Sibiu entfalten konnten", erklärt Klausenburgs Hauptrabbiner Mathias Eisler im Jahr 1900 seinen Studenten in einer Vorlesung, "trotzdem ist es den Juden gelungen, eine Käuferschaft aufzubauen". 1869 registriert die Volkszählung für Sibiu zum ersten Mal 168 Juden.Ein Weißbäcker, ein begabter Zeichner, dokumentiert die ersten Spuren aus dieser Zeit - zufällig. Johann Böbel malt seine Heimatstadt in ein Album, auf die Rückseiten der Bilder zeichnet er Pläne der Stadtviertel. Weit hinten im Büchlein notiert er: "Seit den 50er Jahren ... ist in der Elisabethgasse im Hause Nro. 32 ... im Hof, in einem sehr alten ziemlich grossen Gebäude auch ein jüdischer Tempel hergerichtet worden und die jüdische Gemeinde ist schon zahlreich."Wer die Elisabethgasse heute entlang spaziert, läuft eigentlich auf der Straße des 9. Mai, gesäumt von bunt getünchten Fachwerkhäusern. Nummer 32 strahlt in quietschrosa, ein Malerbetrieb ist im Erdgeschoss eingezogen. Nichts erinnert mehr an das jüdische Gebetshaus. Böbels Karte wird in der Graphiksammlung der Brukenthalbibliothek verwahrt.Genügend Geld für eine Synagoge bringt die jüdische Gemeinde 1898 auf, ein Jahr später im September wird der erste Gottesdienst gefeiert. Architekt Szalay Ferenc hat den neugotischen Bau in der Salzgasse errichtet, 200 Meter entfernt vom heutigen Bahnhof: Arkadenförmig umläuft die Galerie für die Frauen den Gebetsraum, die Blüten der Kassettendecke ziehen den Blick des Betrachters himmelwärts. "In den 30-er Jahren war die Synagoge immer voll", erzählt Eva Moscicki.Damals lebten mehr als 1300 Juden in Sibiu. Eva Moscicki war eine junge Frau, sie ging zum Religionsunterricht in die jüdische Elementarschule, gleich hinter der Synagoge. Heute erinnert nur eine Menorah im dottergelben Türrahmen an die Schule. Eva Moscicki ist 87 Jahre alt, die Älteste der Gemeinde, und am Sabbat bleibt die Synagoge geschlossen. Seit Anfang der 1990er-Jahre. "Das Haus ist zu groß für so wenige Menschen", sagt Raveca Deutsch, die Sekretärin der Gemeinde. Sie schließt eine Seitentür auf und schaltet ein halbes Dutzend Glühlampen an.
Die rumänische Stadt Sibiu ist im Jahr 2007 Kulturhauptstadt Europas. Foto: Veronika WengertAuf den Metallplaketten in der ersten Reihe steht noch immer: Adolf Zimmermann, Eduard Ellasz, Lukacs Aladar. Die Pracht von einst schläft unter einer Schicht Staub. Das Weiß des Vorhangs vor dem Thoraschrank ist ein Grau. Raveca Deutsch schiebt ihn beiseite: Die Lade ist leer.Im Jahr 5767 des jüdischen Kalenders stehen die vier Thorarollen mit ihren Samtmänteln in einem Schrank im Gemeindehaus hinter der Synagoge, einst Heim des Rabbiners. Der letzte Rabbi verließ Sibiu vor mehr als einem halben Jahrhundert Richtung Amerika. "Romeo Krauss hieß er", sagt Eva Moscicki mit einem Lächeln, "ein schöner, junger Mann, sportlich, er spielte oft Fußball". Heute spricht ein Vorbeter im Gemeinderaum das Sabbatgebet, einer von drei Männern, die Hebräisch können.Wer bedeutende Spuren jüdischen, kulturellen Lebens in Sibiu finden will, muss zum Friedhof am Stadtrand fahren. Ganz hinten rechts liegen, abgezirkelt vom orthodoxen, protestantischen und katholischen Teil, die jüdischen Gräber. Zwölf Reihen. In Reihe 3 J steht der efeuumrankte Grabstein von Henry Selbing.Selbing, als Henrik Schlesinger am 6. August 1912 in Sibiu geboren, war Schüler der Klavier-Meisterklasse bei Paul Wittgenstein am Wiener Konservatorium. Die beiden verbanden Musik und Schicksal: Wie Wittgenstein konnte auch Selbing nur mit der linken Hand spielen - die rechte wurde ihm mit 17 Jahren nach einem Straßenbahnunfall amputiert.Selbing leitete das Wiener Opernball Orchester, ehe er 1940 vor den Nazis zurück in seine Heimat floh und nach dem Krieg in Sibiu die staatliche Philharmonie gründete. Er dirigierte sie bis zu seiner Pensionierung. Gerade wird das Haus herausgeputzt für Sibius Kulturhauptstadtjahr.Nur einige Reihen neben dem Musiker wirft die Grabplatte der Malerin Vera Marcu in der tiefstehenden Sonne einen langen Schatten, beinahe so wie auf ihren spätexpressionistischen Bildern. Sie liebte Porträts, Kindergesichter in Aquarell, stellte in Kopenhagen, Berlin, München, Mailand aus. "Vera Marcu war für die Kunstszene in Sibiu sehr wichtig, das blieb auch nach ihrem Tod so", sagt Liviana Dan. Die Kuratorin des Brukenthalmuseums - das älteste Museum Rumäniens überhaupt - hat ein gutes Dutzend Marcu-Bilder im Depot.Und noch ein Grab sticht hervor, die Inschrift: "Isac Leopold (Bubi), 1924 - 194?, deportat." Dabei hatte Eva Moscicki zuvor leise gesagt: "Nein, deportiert wurde aus Sibiu niemand, jede Familie hat viel Geld gegeben. Damit es gut ausging". Die jüdischen Männer mussten ins Arbeitslager, wurden zum Bau der Nationalstraße abgezogen, schlugen einen Durchbruch in den Fels des Fagarasgebirges.Nach dem Krieg gingen die meisten Juden aus Sibiu nach Israel. Bis zu 50 Pässe für Ausreisewillige kamen pro Woche. Die Blutzählung 1942 registriert noch 1350 Juden in der Stadt, 1956 waren es 762, zehn Jahre später nur 211. An die Stelle der lebendigen jüdischen Gemeinde Sibius, sagt die alte Frau Moscicki, ist "eine große Leere" getreten.Ende
------------------------------------
Wenn Sie einen Artikel übernehmen oder neu in den n-ost-Verteiler aufgenommen werden möchten, genügt eine kurze E-Mail an n-ost@n-ost.org. Der Artikel wird sofort für Sie reserviert und für andere Medien aus Ihrem Verbreitungsgebiet gesperrt.Katharina Lötzsch
Belegexemplare gerne auch als pdf bitte UNBEDINGT an die folgende Adresse:
n-ost
Schillerstraße 57
10627 Berlin
n-ost@n-ost.org