Der Traum vom besseren Leben auf der Insel
380.000 Arbeitsmigranten kamen seit der EU-Osterweiterung nach Großbritannien // Größte Einwanderungswelle in der britischen Geschichte
London (n-ost) - Przemo Wrzesinski führt ein "normales Leben". Der 35-jährige Pole meint damit sein Dasein in London, ohne Geldsorgen, aber mit guten Berufschancen. Er spricht von dem Leben, das er in seiner polnischen Heimat nicht hatte, aber seit zwei Jahren in der britischen Hauptstadt führen kann. "Ich kann alle Rechnungen bezahlen und auch mal in Urlaub fahren", sagt er. Wrzesinski arbeitet als Koch im Restaurant eines Kongresszentrums, unweit der Haupteinkaufsmeile Oxford Street. Im Nordwesten der Stadt teilt sich der 35-Jährige ein Haus mit zwei Mitbewohnern. Rund 24.000 Euro verdient er umgerechnet pro Jahr. In Leszno, seiner Heimatstadt zwischen Posen und Breslau, bekam er mit seinen Jobs nie genug Geld zusammen für dieses "normale Leben".So wie Wrzesinski geht es vielen Osteuropäern in Großbritannien. 380.000 sollen seit der EU-Osterweiterung im Mai 2004 als Arbeitsmigranten zugewandert sein, berichtete jetzt die Zeitung "Independent". Überwiegend sind es Polen und Litauer. Oft arbeiten sie als Elektriker, Gärtner, Kellner oder Klempner. Jüngst sind sogar bei der nordirischen Polizei auf eine Anzeigenkampagne hin fast tausend Bewerbungen von Polen eingegangen.In einem Bericht aus dem britischen Innenministerium hieß es kürzlich, die Osteuropäer seien "zuverlässiger und motivierter" als einheimische Arbeiter. Das gelte vor allem im Niedriglohnbereich, wo Briten sich oft weigern, ungünstige Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne zu akzeptieren. Ohne Arbeitsmigranten könnte manches Unternehmen deshalb gar nicht überleben, hieß es in dem Bericht weiter. Die Osteuropäer arbeiten meist zu dem staatlich festgeschriebenen Mindestlohn von rund 7,90 Euro pro Stunde oder nur knapp darüber. Doch schürt dies auch Ängste weniger gut ausgebildeter britischer Arbeiter vor wachsender Konkurrenz.
Großbritannien hat mit dem starken Einwanderungsstrom aus dem Osten nicht gerechnet. Foto: Andreas MetzHinter der jüngsten Zahl von 380.000 verbergen sich alle Arbeiter aus dem einstigen Ostblock, die mit einer Versicherungsnummer in Großbritannien registriert sind. Diese muss jeder haben, der auf der britischen Insel arbeiten will - egal ob als Angestellter oder Selbstständiger. Mit ihren Familienangehörigen und nicht mitgezählten Selbstständigen sollen insgesamt rund 600.000 Menschen aus Osteuropa zwischen Mai 2004 und Juni 2006 eingewandert sein. Statistiker bezeichneten dies als die größte einzelne Einwanderungswelle in der Geschichte Großbritanniens.Ursprünglich hatte die Regierung mit gerade mal 13.000 Menschen pro Jahr gerechnet. Großbritannien, Irland und Schweden waren 2004 die einzigen Länder, welche damals die neuen EU-Bürgern ohne Auflagen begrüßten. Andere Staaten wie Deutschland beschlossen Einschränkungen für die Arbeiter aus dem Osten, die maximal sieben Jahre ab EU-Beitritt aufrechterhalten werden dürfen. Zum 1. Mai 2011 müsste dann auch Deutschland seinen Arbeitsmarkt für polnische oder litauische Angestellte öffnen. Die Beschränkungen für Bulgaren und Rumänen können maximal bis zum 31. Dezember 2013 in Kraft bleiben.Aufgrund der hohen Zuwandererzahlen vollzogen nun auch die Politiker in London eine Kehrtwende und sperrten große Teile des britischen Arbeitsmarktes für die EU-Neubürger aus Rumänien und Bulgarien. Lediglich Finnland und Schweden gewähren unter den westlichen EU-Mitgliedern den EU-Neubürgern freien Zugang zum Arbeitsmarkt.In London erklärte Innenminister John Reid, Großbritannien werde die Politik der "offenen Tür" nicht fortsetzen. Zuvor hatten Öffentlichkeit und Opposition die Einwanderungspolitik kritisiert. Eine Umfrage des renommierten Instituts "YouGov" zeigte vergangenen September, dass Dreiviertel der Briten striktere Beschränkungen für Arbeitsmigranten befürworten. Nur vier Prozent der insgesamt 2000 Befragten glaubten, die Regierung habe die Zuwanderung unter Kontrolle. Ende Dezember beurteilten zudem in einer Umfrage die Mehrheit der Briten die EU-Erweiterung um Bulgarien und Rumänien negativ.Dabei sind mit der Arbeitsmigration auf die Insel auch viele Vorteile verbunden: Die Löhne sind wegen der zusätzlichen Arbeitskräfte besonders im niedrigen Einkommensbereich kaum gestiegen, was wiederum die Preissteigerung abschwächte. Dafür stiegen durch eine erhöhte Nachfrage die Immobilienpreise. Der Staat erhält Steuereinnahmen und Sozialabgaben, die Konsumfreude ist ungebrochen.In der Nahrungsmittelbranche, der Landwirtschaft und für Arbeitskräfte mit speziellen Fähigkeiten gewährt Großbritannien weiterhin Ausnahmen und erteilt auch Rumänen und Bulgaren eine Arbeitsgenehmigung. Zu den ersten, die am Neujahrstag aus den jüngsten EU-Mitgliedern einreisten, zählte der Bulgare Rumen Ginchew. Der 22-Jährige studiert eigentlich Betriebsökonomie, jetzt ist er gekommen, um für eine begrenzte Zeit Narzissen in Cornwall zu pflücken. "Es gibt gutes Geld in Großbritannien - in Bulgarien haben wir zwar Arbeit, verdienen aber weniger", sagte Ginchew bei seiner Ankunft dem "Guardian".Yordanka Sokolowa, stieg in Sofia in den Flieger Richtung Westen: "Ich werde als Au Pair arbeiten. Aber ich kann mir keinen anderen Job suchen. Es ist nicht fair, dass uns einige EU-Mitglieder nicht arbeiten lassen", sagte die 22-Jährige. An ihrem Abflugort und in anderen Flughäfen in Rumänien und Bulgarien warnen Plakate Reisende davor, ohne eine Arbeitsgenehmigung ins Vereinigte Königreich zu kommen. Der Traum vom normalen Leben in Großbritannien - für die meisten Rumänen und Bulgaren wird er sich so schnell nicht erfüllen.ENDE
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