Tschernobyl Baby
Ein Auszug aus Merle Hilbks Buch aus www.kulturama.org
»Hey, was sagst du? Der Kampf? Nein, hat noch nicht angefangen. Diese verdammten Ukrainer lassen sich wie immer Zeit mit der Kontrolle!«
Der Bodybuilder, der uns noch kurz vor dem Schlagbaum überholt hat, streicht nervös um das Wachhäuschen. An seinem Ohr klebt ein Headset, in das er auf Slowakisch hineinschimpft:
»Verdammt, red’ lauter, Blanka! Der Empfang ist … Hey, ich muss auflegen! Die machen die Schranke auf.«
Er springt in seinen Skoda, lässt den Motor aufheulen. Death Metal donnert aus dem Fenster. Auf der Hutablage blinkt etwas, das wie ein Sturmgewehr aussieht.
»Paintball«, sagt Jewgenij. »Das ist hier ein beliebtes Trainingsgelände.«
Das Trainingsgelände des Slowaken ist ein 2827 Quadratkilometer großes Areal im Norden der Ukraine, das wie ein eigener Staat gesichert ist, mit Zäunen, Schlagbäumen und Soldaten, die dort rund um die Uhr Wache halten. Eigentlich sollen sie aufpassen, dass niemand dieses Areal betritt, der dort nicht etwas Wichtiges zu erledigen hat, einen Waldbrand löschen beispielsweise, die Brücke über den Pripjat reparieren oder Plünderer jagen, die Metall und Baumaterialien herausschaffen, um sie auf dem Schwarzmarkt in Kiew zu verkaufen. Eigentlich.
Denn dieses Areal birgt eine Gefahr, die weder sicht- noch hör- oder tastbar ist, eine Bedrohung, die sich den Sinnen verschließt. Die niemand wahrnehmen würde, wenn nicht die Schilder an den Straßenrändern wären, die mit leuchtend roten Buchstaben warnen:Wnimanije! Radiazionnaja Opastnost! »Achtung! Radioaktive Gefahr!« Zäune und Schlagbäume riegeln dieses Areal vom Rest der Welt ab, diese Sperrzone, die einen der mythischen Orte der Neuzeit birgt: den Reaktor Nummer 4.
Die »Tschernobyl-Sperrzone« wurde 1986 eingerichtet, als Sicherheitsmaßnahme, nachdem am 26. April der vierte Block des Atomkraftwerkes Tschernobyl plötzlich und unerwartet havariert war, Radioaktivität von mehr als 100 Hiroshima-Bomben freisetzte, Dörfer verstrahlte, Städte, Felder und Wälder. Hunderttausende wurden krank, starben oder wurden ausgesiedelt, darunter die Einwohner der neben dem Kraftwerk errichteten Stadt Pripjat. Häuser wurden niedergewalzt und Brunnen verplombt, Tausende von Fahrzeugen, Maschinen und Hubschrauber, die in den Tagen nach der Havarie im Einsatz waren, auf extra eingerichteten Autofriedhöfen vergraben. Dann erklärte man das Gelände in einem Radius von 30 Kilometern um den Reaktor zur Sperrzone, zäunte es ein und unterstellte es einer speziellen Zonenbehörde.
Solange die Sowjetunion existierte und wichtige Entscheidungen in Moskau getroffen wurden, herrschte Einigkeit darüber, wer sich in dieser Sperrzone aufhalten sollte: Menschen, die ihre Gesundheit im Dienst der Allgemeinheit riskierten; zum Beispiel die Kraftwerksarbeiter, die die restlichen drei Reaktorblöcke in Betrieb halten, Fahrer, die Arbeiter in die Zone hineinbefördern, Köchinnen und Verkäuferinnen, die sie mit dem Notwendigsten versorgen sollten; Liquidatoren, die die Zone dekontaminieren, und schließlich ein paar Biologen, die die Veränderungen an Flora und Fauna beobachten sollten.
Als der Unionsvertrag 1991 aufgelöst wurde und die Sowjetunion zerfiel, lag die Sperrzone auf einmal auf dem Territorium zweier Staaten, die sich in entgegengesetzte Richtungen entwickelten: Die Ukraine strebte Richtung Westen und Marktwirtschaft, Belarus wurde zu einer autokratischen, Russland treuen Planwirtschaft, zu einer Sowjetunion en miniature mit Kolchosen, KGB und all den pathetischen, Heimat verherrlichenden Spruchbändern, die schon vor der Perestroika die Straßen geziert hatten: »Blühe, mein Heimatkreis!«, »Die Natur ist unser Dom!«, »Für das Volk! Für die Heimat!«
Eine Entwicklung, die sich auch im Umgang mit den Sperrzonen niederschlug: Während die Belarussen ihre Hälfte auf den Namen »Radioökologisches Schutzgebiet« tauften, von der »europaweit einzigartigen Fauna« dort schwärmten und alles taten, das hässliche Wort radiazija (»Radioaktivität«) vergessen zu machen, entdeckte die Ukraine das Marktpotenzial, das in ihrem Teil der Sperrzone schlummerte, und die Faszination, die der havarierte Reaktor auf diejenigen ausübte, die die Katastrophe selbst nur aus dem Fernsehen kannten – und heute viele Dollars für einen Blick darauf lockermachen würden. Eine staatliche Agentur wurde in der Ukraine gegründet, deren Mitarbeiter dafür sorgen sollten, dass Zonentouristen nur an Plätze geführt wurden, an denen sie keine Gefahr liefen, ohne Haare, mit Hautausschlägen oder impotent zurückzukehren. Sie sollten das Risiko für die Besucher überschaubar halten, Mittagessen, Hotelübernachtungen und Andenken in der Zone verkaufen und schließlich sogar mit privaten Reisebüros kooperieren, die All-inclusive-Pakete für westliche Reisegruppen organisierten: Flug nach Kiew, Shoppingtour in der City, Ausflug zum Reaktor mit Dolmetscher und Vollverpflegung.
Meine Zonentour wurde – berufsgerecht – von »Pripyat.com« organisiert, der Zonen-Website eines Graphikdesigners, der als Kind aus Pripjat, der Stadt neben dem Kraftwerk, ausgesiedelt wurde und später sowohl an den Strahlenfolgen als auch an Heimweh litt. In Foren berichten dort Umsiedler über ihr Leben vor der Havarie, Journalisten, zumeist aus dem Westen, beschreiben die politischen, sozialen und medizinischen Folgen der Katastrophe, und Blogger posten ihre neuesten Erlebnisse in der Zone. »Pripyat.com« zieht vor allem Leute an, die nicht gerade als klassische Tschernobyl-Zielgruppe anzusehen sind: amerikanische Twens, deutsche Politikstudenten, ukrainische Computer-Nerds. Menschen, die sich quasi ehrenamtlich daran machen, die Geschichte der Katastrophe für die Nachgeborenen aufzubereiten: dreisprachig, mit einem lockeren Blogger-Duktus und einem Design, das mit seinen ästhetischen Hochhausfotos und Techno- Flyer-Logos ein bisschen an britische Pop-Magazine erinnert, ein bisschen auch an das deutsche Neon. Wie die Anzeigen von Lebensversicherungen, Angstlöser-Globuli und Suchbörsen für verlorene Freunde andeuten, lässt sich die Seite anscheinend gut über Werbung finanzieren. Tschernobyl für die Generation Web 2.0.
Jewgenij heißt der »Pripyat.com«-Fahrer, der mich in die Zone bringt – ein Nebenjob. Im Hauptberuf gestaltet er als Gamedesignerden Verkaufsschlager »S.T.A.L.K.E.R – Shadow of Chernobyl«, ein Ego-Shooter-Spiel, in dem Überlebende in der Sperrzone gegen Mutanten kämpfen müssen. Früher habe er sich überhaupt nicht für Tschernobyl interessiert, erzählt Jewgenij, während er seinen Polo neben dem Schlagbaum parkt. Aber dann sei er, um die Spielumgebung möglichst realistisch zu gestalten, zur Recherche in die Zone gefahren – und süchtig nach ihrer morbiden Schönheit geworden.
Deshalb sei dieser Fahrerjob für ihn auch mehr als nur ein finanzielles Zubrot. Was er genau für ihn ist, kann ich nicht in Erfahrung bringen, denn Jewgenij behauptet zwar, Russisch zu sprechen, nuschelt aber die ganze Zeit auf Ukrainisch vor sich hin. Und der mitreisende Dolmetscher, der mir diese doch sehr fremde Sprache erschließen soll, ist eingenickt. Außerdem ist er selbst Ausländer, ein Bulgare, der in der Ukraine eine Spionageausbildung genossen und dabei einige Fremdsprachen gelernt haben soll. Ein Mann ohne Alternativen – den einheimischen Dolmetschern hatten ihre Ehefrauen den Job in der Zone ausgeredet, aus Angst um ihre Zeugungsfähigkeit.
Ein paar Kilometer hinter dem ersten Schlagbaum steigt noch ein dritter Mann zu uns in den Polo: Sergej, der Führer der staatlichen Agentur »Tschernobylinterinform«, die ihren Sitz in Tschernobyl hat, der Stadt, die dem Reaktor den Namen gab, obwohl eine andere näher an ihm dran lag. In Tschernobyl wohnen heute immer noch Menschen – mitten in der Zone.
So stehen wir Zonenfahrer an einem brütend heißen Septembermorgen in einer Schlange vor dem Schlagbaum I, zwischen einem slowakischer Paintballer und einem norwegischen Militärfan, der auf Englisch von gekaperten deutschen Panzern in der Zone schwärmt, und reichen unsere Papiere dem Mann in Uniform, der von einem Spitzdach-Wachhäuschen aus die elektronische Schranke bedient: Reisepässe, eine mit vielen Dollars erkaufte Zoneneinfahrtsgenehmigung und das von der Zonenverwaltung abgesegnete Programm – das von einem Fototermin am Reaktor Nummer 4 bis hin zu einem Besuch der wiedereröffneten orthodoxen Kirche reicht.
An der Schranke lehnt ein zweiter Uniformträger. Er deutet mit einer Marlboro zwischen den Fingern auf den Slowaken, der gerade mit seinem Skoda in einer Staubwolke verschwindet. »Durak«, zischt er, »Dummkopf! Tanzt hier ständig an zum Kriegspielen!«
Ich lache, mein T-Shirt ist verschwitzt. Der zweite Wachmann ist jung, grinst mich an. »I wish you … good time … in our Chernobyl Zone«, sagt er in stotterigem Englisch, legt die Hand zum Gruß an die Mütze und nimmt Haltung an. Und dann ist plötzlich der Schlagbaum auf.
Wir fahren über eine Straße, die kilometerlang wie mit dem Lineal gezogen geradeaus führt. Dann lichtet sich der Wald an den Straßenrändern, der Blick weitet sich. Wir sehen den Pripjat, der sich in großen Schwüngen durch eine sonnige Ebene schlängelt. In den Flusskehren haben Biber Dämme gebaut, die das Wasser in kleinen, gurgelnden Strömen aus dem Bett drängen. Wiesen mit knietiefem Gras dehnen sich bis zum Horizont. Die Luft riecht nach Sommer, nach Früchten, Pilzen, trockenem Holz. Es ist still, eine betörende Stille, die jeden Gedanken aus dem Kopf vertreibt, als wäre diese Reise eine Übung in Zen-Meditation.
Im Stadtzentrum von Tschernobyl stoppt der Gamedesigner vor einem Steinhaus, das hinter Hagebuttenbüschen verborgen an einem Sandweg liegt: die Zonenverwaltung, wie ein Schild an der Außenfassade verrät. Zwei Huskys springen uns kläffend entgegen, aber rollen sich, als wir die Autotüren öffnen, ergeben auf den Rücken. Wir knien uns in den Sand von Tschernobyl und kraulen Hundebäuche. Im Hauseingang erscheint ein breitschultriger Mann im Jeansanzug und ruft uns zu: »Einen Wodka vor dem Abflug, Genossen?«
Zum Glück einigen wir uns auf ein Wasser und eine kurze Führung durch die »ständige Zonenausstellung«, ein Zimmer mit Strahlungskarten, historischen Fotos der Stadt Pripjat und einem ebenso historischen »Körpermesser«, einer Maschine, auf die man aufsteigt wie auf eine dieser alten Kaufhauswaagen, die Hände auf die Seitengriffe legt und wartet, welches Licht auf der Anzeige aufleuchtet. Grün steht für einen radioaktiv unbelasteten Körper, Rot für das Gegenteil, in verschiedenen Abstufungen. Wir liegen alle im grünen Bereich. »Noch!«, raune ich dem Dolmetscher zu.
»Das wird auch so bleiben, wenn ihr mir folgt!«, ruft Sergej, der Mann im Jeansanzug, der in den nächsten Stunden unser staatlich bestellter Führer sein wird. »Ich bin schließlich für eure Sicherheit zuständig.«
»So haben das die Sowjets auch immer genannt, wenn sie einen unter Kontrolle …«, unke ich. »Vergiss die Sowjets«, sagt Sergej, »ich bin nur der Mann mit dem Geigerzähler!« Und pfeift anerkennend durch die Zähne, als er den sieht, den ich mit mir herumtrage. »Uch ty, unglaublich, ein neuer Kugelfischer! Tja, meine Kiste stammt wahrscheinlich noch aus Sowjetzeiten.«
Zehn Minuten später piepst dieser Kugelfischer im Auto plötzlich so schrill, dass der Ton den russischen Billigtechno aus dem Autoradio übertönt. »Rebjata, Kinder!«, ruft Sergej. »Da vorn beginnt die Zehn-Kilometer-Zone. Jetzt wird es ernst!«
Noch einmal passieren wir eine Grenze, die dieses Mal nur durch eine kleine, von Hand betriebene Schranke gesichert ist. In Zeitlupe schlurft ein Wachmann aus seiner Baracke, wirft einen kurzen Blick auf unsere Genehmigungsscheine, die ihm Sergej aus dem Fenster reicht, und nickt dann kaum merklich.
»Passt gut auf, Jungs!«, spottet Sergej. »Dass mir hier nicht wieder einer so einen Viertonner mit Metall rausschmuggelt!«
»Ach, da kann man aufpassen, wie man will«, klagt der Wachmann. »Diese Altmetall-Mafia findet überall ein Schlupfloch. Inzwischen reisen sie sogar aus dem Ausland an, um das Zeug hier rauszuholen!«
»Und was machen sie mit dem Zeug?«, fragt der Dolmetscher.
»In Kiew hat man ganze Datschensiedlungen damit gebaut«, sagt Sergej. »Und neulich hab’ ich von einer Kolchose gehört, die sich das Dach für ihren Kuhstall aus der Zone organisiert hat.«
Unsere erste offizielle Ausflugsetappe liegt in einem kleinen Waldstück: ein Haus mit Säulen vor dem Eingang und einer himmelblauen Tür – einst der bestens ausgestattete Werkskindergarten, nun baufällig und von Moos überwuchert.
Im Hausflur ist ein Ahorn mit fleckigen Blättern durch den Fußboden gewachsen. Darunter liegen ein Zeichenheft mit halb ausgemalten Pilzen, braune Stiele und rote Kappen, ein Dreirad ohne Räder, umgestürzte Holzbänke. Im zweiten Raum steht ein Dutzend Stockbetten mit fleckigen Matratzen, darauf türmen sich Kissen, Stofftiere und Puppen, die zurückgelassen werden mussten, weil sie verstrahlt sind.
Alles ist von einer grauen Staubschicht überzogen; ein zäher, klebriger Staub, der wie Mehltau an der Oberfläche hängt. Ich hebe eine Puppe hoch, puste ein bisschen. »Njet!«, brüllt Sergej. »Der Staub ist voll mit Strontium!« Unsere Geigerzähler piepsen im Chor, dreieinhalb Millisievert pro Stunde. Das entspricht etwa der natürlichen Strahlenbelastung eines Deutschen im ganzen Jahr! Der Dolmetscher flüchtet sich schwer atmend ins Freie. Sergej drängt hinterher und lacht.
Wie fahren weiter. Plötzlich schiebt er sich ins Bild, der legendäre Reaktor Nummer 4: Ein schmutzigweißes, kastenförmiges Gebäude mit Blechdach und einem Turm, der wie eine Raketenabschussrampe in den Himmel ragt. Havariert sieht er eigentlich nicht aus. Nur verrostet. Er ist ummantelt von einem Sarkophag, für dessen Bau Hunderttausende von Männern ihr Leben riskierten. Über das Metalldach ziehen sich riesige, braunrote Placken, Rost hat sich an der Fassade festgefressen und an den Baugerüsten, die an der Rückseite angebracht sind – wahrscheinlich für Ausbesserungsarbeiten.
Rohre, die sich in unorthodoxen Formationen über das Werksgelände schlängeln, sind mit Folie abgeklebt, geklammert, notdürftig geschweißt. Von der Halle ragen Hochspannungsmasten in den Himmel. Die Spitzen sind abgeknickt. Leitungskabel schwingen im Wind. Die Luft ist erfüllt von einem Zischen, dazu das Brummen des Motors und das hohe, rhythmische Fiepen der Geigerzähler – ein Sound, der mich an meinen Lieblingssong von Kraftwerk erinnert. Der mir nun, mit dem Kopfhörer auf den Ohren, das versinnlicht, was sich sonst den Sinnen entzieht: Radioaktivität.
Vor der Einfahrt zum Werksgelände steigen wir aus. Auf der rechten Seite, eingerahmt von Blumenrabatten, liegen die Verwaltungsgebäude, zweistöckige Plattenbauten, vor denen ein Trupp Arbeiter in Blaumännern aus dem Bus steigt. »Mittagszeit«, sagt Sergej, »die gehen in die Kantine.«
Knapp 3000 Menschen arbeiten noch in der Zone, ein Großteil von ihnen auf dem Kraftwerksgelände, auf dem sechs Reaktorblöcke stehen. Erst im Jahr 2000 wurde der letzte Block abgeschaltet, bis zu diesem Zeitpunkt gab es im Kraftwerk noch 9000 Arbeitsplätze. Gefragte Arbeitsplätze, denn die Bezahlung war gut, und man bekam doppelt so viele Urlaubstage wie in anderen Kraftwerken.
Aber auch jetzt gibt es anscheinend immer noch genug zu überwachen, zu flicken, in Stand zu halten – die Hecken an der Werkseinfahrt sind geschnitten, die Blumenrabatten frisch bepflanzt. Es wirkt, als ob die Zeit am 25. April 1986 stehen geblieben wäre.
Die Sonne brennt vom Himmel, es ist so heiß, dass sich das Mineralwasser in unseren Plastikflaschen auf Espressotemperatur aufgeheizt hat. Trotzdem wagt keiner von uns, seine Jacke auszuziehen – jeder Zonenfahrer muss eine sogenannte »Sicherheitsunterweisungserklärung « unterschreiben, mit der er sich verpflichtet, »den Körper aus Sicherheitsgründen während des gesamten Aufenthaltes komplett bedeckt zu halten«.
Schwitzend balancieren wir über die schmale Eisenbrücke, die den Kanal überspannt, der sich um den Reaktorkomplex zieht – der Kanal, in den früher das Kühlwasser eingeleitet wurde. Auch das von Reaktor Nummer 4. In der Mitte dieser Brücke wirft sich ein langbeiniges Wesen in Positur, um sich von einem jungen Mann mit lustlosem Blick fotografieren zu lassen. Sie trägt: fast nichts. Einen handbreiten Minirock, ein Top mit bauchnabeltiefem Ausschnitt und Pumps, die so offen sind, dass der Staub von allen Seiten hereinquellen kann. Der Strontiumstaub.
»Was ist denn das für eine?«, fragt der bulgarische Dolmetscher.
»Eine Geliebte des Direktors«, sagt Sergej. »Die lassen sich immer in der Zone fotografieren, wenn sie sich langweilen.«
»Wofür fotografieren? Für ein Magazin?«
»Privat, zum Angeben. Nach Paris kann doch inzwischen jeder fahren!«
Aus Merle Hilbk: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben.
© Eichborn AG, 2011. 275 S., gebunden, zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-8218-6534-8, €17,95
Weitere Informationen und Lesungstermine unter www.eichborn.de