Belarus

Interview mit Oppositionsführer Milinkewitsch

„Auch wenn mir Gefängnis drohen sollte, gebe ich unseren Kampf nicht auf.“ Interview mit dem weißrussischen Oppositionsführer Alexander Milinkewitsch, Träger des Sacharow-Preises 2006 Minsk (n-ost) - Am 12. Dezember wird Alexander Milinkewitsch vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Der nach dem russischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow (1921-1989) benannte Preis ist mit 50.000 Euro dotiert und wird Personen und Institutionen verliehen, die sich gegen Ungerechtigkeit, Intoleranz und Unterdrückung zur Wehr setzen und die Menschenrechte verteidigen. Milinkewitsch rückte im Herbst 2005 als Gegenkandidat des autoritär regierenden Alexander Lukaschenko an die Spitze der weißrussischen Opposition. Zwar konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen im März 2006 nicht durchsetzen, Großdemonstrationen gegen die staatliche Wahlfälschung mit bis zu 30.000 Personen zeigten damals jedoch, dass sich in Weißrussland eine Alternative zum System Lukaschenko formiert hat. Unsere Korrespondentin Tatjana Montik hat den Sacharow-Preisträger in Minsk getroffen.
Alexander Milinkewitsch:"Ich glaube, eine Mission zu haben(...)mein Land zu Freiheit und Demokratie zu führen." Foto: Tatjana Montik
FRAGE: Als Gewinner des Sacharow-Preises stehen Sie nun in einer Reihe mit Nelson Mandela, Kofi Annan oder Ibrahim Rugova. Welchen Wert hat der Preis für Sie persönlich?MILINKEWITSCH: Ich war der Meinung, dass Belarus heute nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses der Weltöffentlichkeit steht. Ich dachte daher eher, der Preis würde in den Libanon gehen. Dieser Preis ist für mich eine große Freude, denn damit unterstützt Europa nicht mich persönlich, sondern Tausende von Menschen, die sich an den Protestaktionen der Opposition in Belarus beteiligten, die Mut, Charakter und Stärke zeigten. Dieser Preis ist für uns Weißrussen eine gewaltige moralische Unterstützung, deren Bedeutung man nicht unterschätzen darf.FRAGE: Warum konnten sich im Frühjahr 2006 die Ereignisse in Minsk nicht nach dem Szenario entwickeln wie etwa in Kiew im Herbst 2004 während der orange-farbenen Revolution?MILINKEWITSCH: Der Unterschied zwischen Weißrussland auf der einen und Serbien, Georgien und der Ukraine auf der anderen Seite ist gewaltig. In der Ukraine zum Beispiel gab es keine Diktatur, dort herrschte bereits eine unvollkommene Demokratie, und um auf den Platz zu gehen und zu protestieren, mussten die Menschen nur ihre Passivität überwinden, vom eigenen Sofa aufstehen und einfach losgehen. Keiner wurde dabei mit dem Verlust der Arbeit, des Studienplatzes oder gar der eigenen Freiheit konfrontiert. In der Ukraine gab es im Parlament unabhängige Abgeordnete und unabhängige Medien. Bei uns ist das alles leider nicht der Fall gewesen. Wir leben in einem vollkommen anderen Land. Warum haben wir nicht gewonnen? Wir haben sehr darauf gehofft. Aber beim ersten Anlauf lässt sich eine derart brutale Diktatur wie die weißrussische nicht auf die Knie zwingen. FRAGE: Abgesehen von dieser Preisverleihung - hatten Sie nie das Gefühl, dass Europa Weißrussland im Stich lässt? Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen gab es beispielsweise keine nennenswerten EU-Sanktionen gegen Lukaschenko.MILINKEWITSCH: Ehrlich gesagt bekommen wir Weißrussen oft den Eindruck, dass Europa uns vergessen hat. Vor dem Gipfeltreffen der EU mit Russland in St. Petersburg etwa habe ich mich mehrmals an die europäischen Politiker mit der Bitte gewandt, die weißrussische Frage in Gesprächen mit Putin aufzugreifen. Leider ist es weder beim Gipfeltreffen in Sankt Petersburg noch bei EU-Gipfel in Finnland dazu gekommen. Dabei ist es für uns äußerst wichtig, dass die Lage in Weißrussland, die Frage der Repressionen und der Gefängnisstrafen für Oppositionelle im Focus der Aufmerksamkeit solcher Foren bleibt. FRAGE: Was fehlt der weißrussischen Opposition noch zum Durchbruch? MILINKEWITSCH: Wir brauchen vor allem eine große Zahl von Menschen, die auf die Straßen gehen. Im März waren es bis zu 30 000. Das war für unsere Bedingungen sehr erfolgreich, doch um die Diktatur zu stürzen, brauchen wir das Zwanzig- bis Dreißigfache. Bei den Präsidentenwahlen wurde ich nur von 20 bis 30 Prozent der Wähler unterstützt. Deshalb muss die Opposition noch eine große Arbeit leisten. Und diese Arbeit, möchte ich betonen, ist nicht gegen Lukaschenko gerichtet, sondern gegen Angst und Apathie. Sie zielt auf die Veränderung der Mentalität unserer Menschen. Wir können nur durch die tägliche kleine Arbeit mit den Menschen siegen, durch Tür-zu-Tür-Gespräche mit einzelnen Bürgern, denn freie Medien gibt es so gut wie keine mehr. Uns bleiben nur Flugblätter und persönliche Gespräche. FRAGE: Sind nach den Massenprotesten in Weißrussland die Repressionen gegen die Andersdenkenden abgeschwächt oder eher verstärkt worden?MILINKEWITSCH: Das Regime hat seine Repressionen gegen die Opposition verstärkt. Und diese sind zynischer und brutaler geworden. Und die Machthaber suchen keine Vorwände mehr wie früher, als man die Oppositionellen etwa des Rowdytums beschuldigte und auf dieser Grundlage zu Gefängnisstrafen verurteilte. Heute handeln die Machthaber viel furchloser als früher. So wie im Fall von Dmitriy Daschkewitsch, dem führenden Politiker der Jugendbewegung Malady Front. Als ihm die Registrierung seiner Nichtregierungsorganisation verwehrt wurde und er mit seinen Mitstreitern in der Jugendbewegung weiterhin aktiv war, wurde er zu 1,5 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Das ist eine hundertprozentige Verletzung der Verfassung, des Rechtes auf Versammlungsfreiheit. Das heutige Handlungsschema des Repressionsapparates sieht folgendermaßen aus: Man wählt ein Opfer aus den Reihen der aktivsten Oppositionsmitglieder aus und man versucht, diesen Menschen durch eine Gefängnisstrafe zu brechen, damit die anderen so etwas gar nicht wagen.FRAGE: Wie viele Repressionsopfer gibt es derzeit in Ihrem Land? MILINKEWITSCH: Aktuell sind in Belarus aus politischen Gründen 16 Menschen zu längeren Haftstrafen bzw. zu Besserungsarbeiten verurteilt worden. Nach den Protestaktionen im März vergangenen Jahres haben über 1 000 Menschen für ein bis zwei Wochen in Gefängnissen eingesessen. An die 500 Stundenten haben wegen ihrer politischen Tätigkeit ihren Studienplatz verloren. Und Tausende von Menschen landesweit haben aus demselben Grund ihre Arbeitsplätze verloren.FRAGE: Fühlen Sie selbst sich noch sicher in Weißrussland?MILINKEWITSCH: Persönlich fühle ich mich heute relative sicher. Nicht einmal der KGB spioniert mir so oft nach, wie es vor und während der Präsidentschaftswahl gewesen ist. Druck wird aber auf meine drei Kinder ausgeübt. Meinem älteren Sohn, der nach der Ausbildung Jurist ist, haben sie das Geschäft ruiniert. Gegen meine zwei anderen Söhne, die derzeit in Warschau studieren, wurden Strafverfahren eingeleitet. Man fordert sie auf, dringend ihren Armeedienst anzutreten. Wir selber aber wissen zu gut, was mit den Kindern der Oppositionellen in der Armee geschieht. Aufgrund dessen können meine beiden Söhne in ihre Heimat derzeit nicht zurückkehren. FRAGE: Betrachten Sie sich selber vor und nach der Präsidentschaftswahl. Haben Sie sich verändert?MILINKEWITSCH: Ich sehe mich nicht so sehr als Politiker. Daher hätte ich nicht gedacht, dass ich es einmal schaffen werde, große Menschenmengen zu mobilisieren. Seit dem März hat sich meine Kompromissbereitschaft noch verstärkt. Um Menschen zu vereinigen, muss man zu Kompromissen bereit sein. Während des Wahlkampfes habe ich Wähler in hunderten von Städten und Dörfern besucht, eine andere Möglichkeit des Wahlkampfes hatte ich nicht. Dabei habe ich gelernt, den Hoffnungen und Ängste der Weißrussen besser nachzufühlen. Deshalb glaube ich heute, mein Land und seine Leute viel besser zu verstehen als vor der Wahl.FRAGE: Im Januar finden in Weißrussland Lokalwahlen statt. Die Chancen der Opposition bei diesen Wahlen scheinen wie bei der Präsidentschaftswahl gleich Null zu sein. Und trotzdem wollen Sie sich daran beteiligen?MILINKEWITSCH: Diese Wahlen sind für uns eine Chance, die einfachen Menschen zu erreichen. Wir werden erneut versuchen, unseren Bürgern die Vision eines anderen Weißrusslands vorzustellen, eines Landes, in dem man ohne Angst leben kann und in dem unsere Kinder Zukunftsperspektive haben und dafür nicht auszuwandern brauchen. Wir dürfen nicht darauf warten, dass die Straßen von Minsk oder von anderen Städten auf einmal voller Demonstranten sind, dass das Regime fällt und die Miliz beim Volk um Entschuldigung bittet. Es gibt keine Wunder! Nur harte Arbeit hat Erfolg. Die Demonstrationen im März haben im Volk bereits etwas verändert. Wir stehen aufrechter und können uns ehrlich in die Augen sehen.FRAGE: Haben Sie weiterhin die Kraft, als Oppositionsführer zu arbeiten?MILINKEWITSCH: Mir wird oft das Fehlen von Ambitionen vorgeworfen. Und das stimmt. Denn ich glaube, eine Mission zu haben. Und sie besteht nicht darin, den Präsidentensessel möglichst schnell zu besetzen, sondern darin, mein Land zu Freiheit und Demokratie zu führen. Sollte allerdings morgen ein neuer Mensch kommen, der ein besserer Oppositionsführer wäre als ich, lasse ich ihm meinen Platz gerne frei und schließe mich seinem Kampf an. Doch derzeit sieht es so aus, dass ich unter den führenden Oppositionellen die höchste Beliebtheit habe, dank der Arbeit von Tausenden von Menschen, die mit mir den Wahlkampf gemacht haben. Vor der Wahl habe ich es unseren Bürgern versprochen: Ich werde dieses Land nach der Wahl nicht verlassen. Auch wenn mir Gefängnis drohen sollte, gebe ich unseren Kampf nicht auf. Deshalb haben mir die Wähler geglaubt. Und ich werde sie nicht enttäuschen und bleibe dort, wo ich gebraucht werde.FRAGE: Ist Ihrer Meinung nach die Hilfe, die die Demokratiebewegung in Weißrussland aus Europa bekommt, ausreichend?MILINKEWITSCH: Ich glaube, Europa hat noch keine Methode gefunden, wie Demokratie-Bewegungen in Ländern mit diktatorischen Regimen zu unterstützen sind Indem die Europäer die Demokratie unterstützen, gehen sie davon aus, dass die Führung des jeweiligen Landes selber eine Demokratisierung ihres Landes anstrebt. In Weißrussland ist das leider nicht der Fall, und das kluge Schema scheitert bei der Anwendung auf Weißrussland vollkommen. Meine Aufgabe besteht deshalb auch darin, die Europäer zur Ansicht zu bringen, dass die Kooperation mit solchen Ländern wie Weißrussland und Russland nach ganz anderen Regeln verlaufen soll. Was die EU für diese beiden Länder braucht, ist ein neues, flexibleres System der Unterstützung von demokratischen Strukturen, der Zivilgesellschaft und der freien Massenmedien.FRAGE: Derzeit wird viel über eine Wiedervereinigung Weißrusslands mit Russland spekuliert. Dabei spielt vor allem die Abhängigkeit Weißrusslands von russischem Gas und Öl eine Rolle. Sehen Sie diese Gefahr?MILINKEWITSCH: In der Tat gibt es ein solches Problem. Russland ist unser großer Nachbar – territorial und gemessen an den Ressourcen. Aber in Russland gibt es eine große Zahl von Menschen, die das alte Imperium wiederherstellen und dabei mit Weißrussland anfangen wollen, um dann mit der Ukraine und Zentralasien ähnlich fortzufahren. Ich glaube, diese Tendenz ist gefährlich, vor allem für Russland selbst. Dieses postimperiale Syndrom sollte Russland allmählich überwinden, wie es einmal auch Frankreich und Großbritannien überwunden haben. FRAGE: Ausgerechnet Alexander Lukaschenko, der früher selbst eine Integration von Belarus und Russland ins Spiel gebracht hat, positioniert sich nun als Garant der Unabhängigkeit des Landes …MILINKEWITSCH: In der Tat ist Lukaschenko heute auf einmal für die Unabhängigkeit. Das liegt allein daran, dass er keine Aussichten mehr hat, die Macht im Moskauer Kreml zu übernehmen. Er ist keinesfalls der Garant unserer Verfassung, denn er ist kein Patriot. Im Prinzip könnte Lukaschenko unser Land über Nacht verkaufen, weil er so machtbesessen ist. Deshalb appelliere ich immer wieder an die führenden Politiker der Welt: Sollte ein Referendum über die Integration Russlands mit Weißrussland stattfinden, erkennt bitte dieses Referendum nicht an! Denn Weißrussland ist kein demokratisches Land, und man darf über das Schicksal eines Zehn-Millionen-Volkes nicht in einem undemokratischen Referendum entscheiden.*** Ende ***
 
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