Gefühl der Unzufriedenheit
Kurz nach Sonnenaufgang macht sich im Südosten der Türkei fast das gesamte Dorf Hah auf den Weg zur Dorfkirche. Etwa achtzig Frauen, Männer und Kinder singen rund zwei Stunden lang Choräle der syrisch-orthodoxen Lithurgie. Die Kirche der Mutter Gottes ist zweitausend Jahre alt und die älteste aramäische Kirche der Region. Viele Aramäer glauben, dass die aus Bethlehem zurückkehrenden drei Könige aus dem Morgenlande sie begründet haben. Nach der Sonntags-Messe bleiben die Kinder in dem aus Kirche, Hof und weiteren Gebäuden bestehenden Komplex. Der Mönch des Dorfes erteilt nun Unterricht in syrisch-orthodoxer Religion und aramäischen Sprachformen.
Die Aramäer beten heute noch auf Aramäisch, einer Weiterentwicklung des vermutlich auch von Jesus von Nazareth benutzten antiken Aramäisch. Neben dem an der türkischen Schule vermittelten Geschichtsbild lernen die Schüler am Wochenende die Geschichte des „Tur Abdin”, des Berges der Knechte Gottes, wie die Region um Midyat im Südosten der Türkei auf Aramäisch heißt. Die Bewohner des Tur Abdin wurden bereits im ersten Jahrhundert von den Aposteln missioniert. Der Bischofssitz der ersten Diözese vom Tur Abdin war das Dorf Hah, damals Metropole und Königsstadt. Heute heißt Hah offiziell Anitli. Wie alle anderen Dörfer der Region wurden die Namen in den Dreißiger Jahren türkisiert.
Seit der Republikgründung 1923 gelten alle Bürger der Türkei als Türken. Nur die griechischen, armenischen und jüdischen Gemeinden wurden im Friedensvertrag von Lausanne als Minderheiten mit spezifischen Rechten, wie vor allem der Unterrichtung in den Muttersprachen, anerkannt. Die aramäischen Klöster aber verwaisten. Erst in den achtziger Jahren übernahm der Metropolit Timotheos Samuel Aktaş die Leitung des für die Region Midyat wichtigsten Klosters Mor Gabriel. Aus einer Ruine entstand in den vergangenen zwanzig Jahren wieder ein imposanter Bau. Die Gelder für die Restaurierung kommen vor allem aus dem Ausland, von den Diaspora-Gemeinden, aber auch von der EU.
Metropolit von Mor Gabriel / Sabine Küper-Büsch, n-ost
In diesen Tagen ist die Stimmung in Mor Gabriel gespannt. Inspekteure aus Ankara kamen vor zwei Wochen zu Besuch und leiteten eine Untersuchung wegen der Restaurierungsarbeiten und der Unterrichtstätigkeiten des als Internat für etwa vierzig Schüler fungierenden Klosters ein. Anwalt Erol Dora, Rechtsberater des Metropoliten, setzt zu einer komplizierten juristischen Deutung an. De jure garantiere der Friedensvertrag von Lausanne den christlichen Minderheiten Rechte. Da die Aramäer eine christliche Minderheit sind, müssten sie auch davon profitieren. De facto sind die Klöster momentan aber wegen fehlender Anerkennung aus Ankara gezwungen in Illegalität zu unterrichten.
In der Woche besuchen die Internatsschüler die dem türkischen Erziehungsministerium unterstehenden Schulen, am Wochenende lernen sie Aramäisch im Kloster. Auf diplomatischer Ebene sind die Rechte der christlichen Minderheiten nun Gegenstand der Gespräche während der Türkei-Reise von Papst Benedikt XVI. Metropolit Timotheos Samuel Aktas brummt unzufrieden. Bis kurz vor Reiseantritt war zunächst unklar, ob der Papst in Istanbul mit dem Vertreter der syrisch-orthodoxen Kirche überhaupt zusammentrifft. „Einer unserer Mönche wurde nach den Äußerungen des Papstes zum Propheten Mohammed im irakischen Mossul getötet, ein Kondolenzbesuch ist demnach ein Gebot der Höflichkeit”, meint der Metropolit.
Tatsächlich wurde ein Zusammentreffen Benedikt XVI mit dem syrisch-orthodoxen Metropoliten in Istanbul noch in letzter Minute arrangiert. Ein Gefühl der Unzufriedenheit ist dennoch gerade im Tur Abdin spürbar. Politisch stehen die Aramäer immer im Schatten der Völkermord-Diskussion um die Armenier, obwohl es in der Spätphase des Osmanischen Reiches auch Pogrome gegen aramäische Christen gegeben hat. Heute versuchen sie vor allem mit dem türkischen Staat auszukommen, weil die aramäische Diaspora den Traum von der Rückkehr in den Tur Abdin hegt. Yakup Gabriel etwa kehrte nach dreiundzwanzig Jahren als wohlhabender Mann aus Zürich zurück und eröffnete vor vier Jahren ein Juweliergeschäft in Midyat. Um den Laden kümmert sich der achtzehnjährige Sohn, denn Gabriels Hauptwirken gilt den von EU-Geldern finanziertem „Verein zur Förderung der aramäischen Kultur.” Auf Vereinsebene gelang die Einrichtung eines Aramäisch-Kurses, ein kleiner Schritt in Richtung Anerkennung der uralten Kultur. Daneben bleiben jedoch viele Probleme ungelöst.
Von ursprünglich 80.000 Aramäern leben heute noch knapp 15.000 in der Türkei, davon weniger als zweitausend im südöstlichen Midyat. Im Dorf Hah etwa sind von ursprünglich siebzig Familien achtzehn übrig geblieben. Die meisten Dorfbewohner emigrierten in den Achtziger und Neunziger Jahren wegen der Kämpfe zwischen kurdischer PKK und türkischem Militär. Auseinandersetzungen mit dem vom türkischen Militär als Dorfschützer gegen die PKK bewaffneten kurdischen Feudalherrn “Aga” Cazim Aslan aus dem Nachbardorf überschatten noch heute ihren Alltag. Im Sommer verprügelte “Aga” Cazim Aslan den aus Australien als Urlauber in das Dorf reisenden Isa Dogan. „Nach zwanzig Jahren traue ich mich wieder in mein Heimatdorf und werde gleich wieder verprügelt” seufzt der Achtundfünfzigjährige betrübt. Siebentausend Dollar Schutzgeld sollte er dem Aga bezahlen.
Rechtsstreitigkeiten um Landbesetzungen durch kurdische Nachbarn, aber auch die Verstaatlichung von Grundstücken vergällt den Aramäern momentan den Gedanken an eine Rückkehr. Vor drei Wochen reiste eine Delegation deutscher Richter halb offiziell in den Tur Abdin, um die Sicherheit der Region zu prüfen. Etwa zwanzigtausend aramäische Christen leben in Deutschland. Die meisten sind geduldet und fürchten sich vor ihrer drohenden Abschiebung. Metropolit Timotheus Samuel Gabriel steht vor dem Tor seines imposanten Klosters und schaut über die schöne Hügellandschaft des Tur Abdin. „Ich hatte bei meinen Gesprächen den Eindruck, die Richter aus Deutschland haben verstanden, wie sicher es hier ist”, lächelt er lakonisch.