Mazedonien

„Entwicklungsgestört“ und „abgeschrieben“

Seit drei Jahren arbeitet die 27-jährige Milena Trajtschevska an der Zlatan Sremac Schule für geistig behinderte Kinder in Mazedoniens Hauptstadt Skopje. Sie ist eine „Defektologin“ – mit diesem Begriff werden Lehrer für geistig behinderte Kinder beschrieben. Zwar geben die Lehrer im Gespräch zu, dass der Begriff veraltet sei, benutzt wird er dennoch. Dieser Widerspruch ist überall im mazedonischen System zu finden.

Das Land, dem vor knapp einem Jahr die EU den Status des Beitrittskandidaten verliehen hat, ist sich zwar im Klaren über die zahlreichen Lücken im Ausbildungs- und Gesundheitswesen, besonders in Hinsicht auf behinderte Menschen. Aber ändern tut sich wenig. So läuft seit einigen Jahren ein Integrationsprogramm, das geistig behinderten Kindern unter anderem ein Recht auf den Besuch einer regulären Schule zugesteht. Dieses Recht ist auch gesetzlich verankert. Wahrgenommen wird es allerdings nur in den allerwenigsten Fällen.

So herrscht in Mazedonien eine ziemliche Unklarheit darüber, wie denn diese Integration nun wirklich umgesetzt werden soll. Es gibt nicht einmal genaue Zahlen über Behinderte. Stattdessen orientieren sich die meisten an den Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation, denen zufolge behinderte Menschen rund zehn Prozent der etwas über zwei Million Einwohner Mazedoniens ausmachen.

Unwissen herrscht auf allen Ebenen, begleitet von einem schweren sozialen Stigma, wie zum Beispiel im Fall von Nikola, einem 11-jährigen Jungen mit Down-Syndrom. Seine Lehrerin kritisiert, dass Nikola nur sehr selten Hausaufgaben erledigt. Er hat ein Herzproblem und seine Eltern kümmern sich hauptsächlich um seine Gesundheit und scheinen nicht an seinem schulischen Fortschritt interessiert. Aber auch viele Lehrer sind sich der Möglichkeiten einer Förderung geistig behinderter Kinder nicht bewusst.

Borjanka Mandschukovska, eine andere „Defektologin“ an der Zlatan-Sremac-Schule, ist überzeugt, dass Eltern oft zu hohe Erwartungen in ihre Kinder setzen. „Viele Eltern glauben, dass ihre Kinder bessere Leistungen vollbringen können, und fragen uns dann – ist dass alles was das Kind gelernt hat?“, erzählt Borjanka. „Diese Eltern sind unrealistisch“, kommentiert sie kühl.

Eine Lebenserwartung von oft über 50 Jahren und ein weitgehend selbständiges Leben - wie es durch eine in der EU übliche frühzeitige und individuell Betreuung von Menschen mit Down-Syndrom erreicht wird - ist in Mazedonien reine Illusion. Elena Kocovska von der Organisation für behinderte Menschen „PolioPlus“ ist selbst behindert. Dass sie an einer Schule für Kinder ohne Behinderung lernen durfte, war eine Ausnahme. „Das Problem ist oft, dass die Eltern eine schlechte Beratung bekommen“, bemängelt sie.

„Wenn ein Lehrer an einer normalen Schule sieht, dass ein Kind mit anderen nicht mithalten kann, empfiehlt er den Eltern das Kind am Institut für Mentale Gesundheit einen IQ-Test machen zu lassen“, erklärt der Direktor der Zlatan Sremac Schule, Tonche Trajkovski. „Nach Testergebnissen wird den Eltern oft empfohlen, das Kind in eine Schule für spezielle Bedürfnisse zu versetzen.“ Dabei wird allerdings kein Unterschied zwischen geistiger Behinderung und Lernschwierigkeiten gemacht.

Und so bekommen in Mazedonien die Kinder mit Legasthenie die gleiche Behandlung wie die Kinder mit Autismus oder Down-Syndrom. Die Diagnose ist für alle gleich: „Niedrige Intelligenz.“

Die Sonderschulen haben einen stark vereinfachten Lehrplan. Und obwohl die meisten nach acht Jahren einen Abschluss bekommen, ist das Diplom dieser Schule eher ein Hindernis als Hilfe bei der Suche nach Arbeit oder weiteren Ausbildungsmöglichkeiten. Nichtregierungsorganisationen wie PolioPlus versuchen dort einzugreifen, wo der Staat versagt. Sie unterstützen behinderter Menschen und klären die Gesellschaft auf. Doch diese Organisationen sind vom Geld aus dem Ausland abhängig und gegen die „Defektologen“ in Mazedoniens Gesellschaft haben sie weiterhin einen schweren Stand.


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