Fluchtgedanken trotz Versöhnungsgesten
In der kosovarischen Hauptstadt Pristina ist die Macht auf engstem Raum konzentriert: Es ist ein und derselbe Zaun, der den Sitz des Präsidenten, das Parlament und das Regierungsgebäude umspannt. Innerhalb des Zauns scheint es so etwas wie ein Markenzeichen zu geben: die konsequente Dreisprachigkeit bei allen Beschriftungen. Alle Hinweise an den Bürotüren, bei der Sicherheitskontrolle oder am Personenaufzug sind in Albanisch, Serbisch und Englisch zu finden – den drei offiziellen Sprachen des seit 1999 von der Uno verwalteten Kosovo.
Die Dreisprachigkeit soll eine Botschaft vor allem an ausländische Beobachter sein: Das Kosovo ist reif, ein unabhängiger und demokratischer Staat zu werden, in dem die Minderheiten dazugehören. Dafür steht auch Fatmir Sejdiu, der seit Februar 2006 Präsident des Kosovo ist und das Erbe seines verstorbenen charismatischen Vorgängers und Parteifreundes Ibrahim Rugova konsequent weiterführt. „Wir wollen die Versöhnung mit den im Kosovo lebenden Serben. Wir wünschen uns, dass sie hier bleiben und so auch eine Brücke zu Serbien sein können“, erklärt der ehemalige Rechtsprofessor im Gespräch mit n-ost.
Fatmir Sejdiu, Präsident des Kosovo. / Norbert Rütsche, n-ost
Doch Sejdius Worte stoßen bei den meisten Kosovo-Serben auf taube Ohren. Ja, er werde gehen, meint der 32-jährige Dejan Stojanovic aus Novoberda/Novo Brdo im Osten des Kosovo, während er die letzten Reste der diesjährigen Maisernte zusammenträgt. Und fügt hinzu: „Sollte das Kosovo unabhängig werden, wird kein einziger Serbe hier bleiben.“ Dieser Satz wird besonders in den serbischen Enklaven fast gebetsmühlenartig vorgetragen.
Von den zirka 5000 Einwohnern der Gemeinde Novoberda/Novo Brdo sind je rund die Hälfte Serben beziehungsweise Kosovo-Albaner. Der Serbe Petar Vasic amtet als Bürgermeister, der Albaner Xhemajl Novoberdaliu als sein Stellvertreter. Probleme zwischen den Ethnien gebe es hier keine, versichern die beiden übereinstimmend. „Sie finden im Kosovo keine andere Gemeinde, in der Serben und Albaner gemeinsam in denselben Büros arbeiten“, verkündet Vasic stolz. Doch all das reicht für ihn nicht aus, um sich in einem unabhängigen Kosovo sicher zu fühlen.
Auch er würde gehen, sagt Petar Vasic. Sein Vize Xhemajl Novoberdaliu bedauert dies. Zuerst sprich er Albanisch, wechselt dann aber auf Serbisch, damit ihn auch Bürgermeister Vasic versteht: „Wenn wir jetzt zusammenleben können, ist das doch auch nach der Statusentscheidung möglich. Wir teilen die Geschichte, wir alle haben die Gräber unserer Familien hier.“ Aber Bauer Dejan Stojanovic spricht aus, was viele Serben in diesen Tagen umtreibt: „Es ist nicht die Angst vor Gewalt. Nein“, sagt er mit einer Mischung aus Trauer und Trotz in seiner Stimme, „ich habe Angst, zu einem Bürger zweiter Klasse zu werden“.
Einer der wenigen serbischen Politiker, der seine Leute immer wieder zum Bleiben auffordert, ist Oliver Ivanovic, Abgeordneter der „Serbischen Liste für Kosovo und Metohija“ (SLKM) im Kosovo-Parlament. „Sollte es tatsächlich zur Unabhängigkeit des Kosovo kommen, dann empfehle ich allen, erstmal abzuwarten und die Lage in Ruhe einzuschätzen. Niemand muss sofort seine Sachen packen und gehen.“ Ivanovic bedauert, dass die serbische Regierung die Kosovo-Serben nie klar und eindeutig dazu aufgerufen hat, im Kosovo zu bleiben. Vielmehr malt sie immer wieder Szenarien einer Massenflucht an die Wand.
Petar Vasic (links), Bürgermeister der Gemeinde Novoberda/Novo Brdo, und sein Stellvertreter Xhemajl Novoberdaliu. / Norbert Rütsche, n-ost
Von der neu gebauten serbisch-orthodoxen Kirche des Heiligen Dmitrij im Nordteil seiner Heimatstadt Mitrovica zeigt Ivanovic auf die Brücke über den Fluss Ibar, die Trennlinie zwischen den im Süden der einstigen Bergbau-Stadt lebenden Kosovo-Albanern und den Serben im Norden. Kosovarische und internationale Polizeikräfte sichern die Brücke, an der es in der Vergangenheit immer wieder zu Zusammenstössen zwischen den verfeindeten Volksgruppen gekommen ist.
Fast 95 Prozent der etwa 60 000 Menschen, die in Nord-Mitrovica und im Nordzipfel des Kosovo leben, sind Serben, Ivanovic ist wohl der bekannteste von ihnen. Wie kein anderer kosovo-serbischer Politiker tritt der 53-jährige für eine Emanzipierung von Belgrad ein. Sollte das Kosovo ein souveräner Staat werden, sagt Ivanovic für den serbisch dominierten Norden neue Spannungen voraus: „99 Prozent der Leute hier werden dann ihre Unabhängigkeit von einem unabhängigen Kosovo erklären.“ Er persönlich sei aber strikt gegen derartige Proklamationen. Zudem befürchtet Ivanovic, kosovo-albanische „Extremisten könnten dies als 'Einladung' ansehen, Serben zu töten“.
Um die Situation zu entschärfen, schlägt Oliver Ivanovic ein zehnjähriges Moratorium vor, in dem nicht über den Kosovo-Status verhandelt wird. „Dafür sollten wir in dieser Zeit die Alltagsprobleme angehen.“ Denn ein Kompromiss – und dies sei der einzige tragfähige Weg – sei derzeit unmöglich zu erreichen. Auch Slobodan Samardzic, der Leiter der serbischen Delegation bei den im Februar 2006 begonnenen Wiener Status-Verhandlungen, plädiert für eine Lösung, der alle Seiten zustimmen können.
„Man kann eine solch komplizierte Frage nicht in neun Monaten entscheiden“, betonte Samardzic im Gespräch mit n-ost am Sitz der serbischen Regierung in Belgrad. Zudem fehle derzeit das gegenseitige Vertrauen. „In zehn Jahren sind unsere Beziehungen aber vielleicht so, dass Serbien sogar die Unabhängigkeit des Kosovo annehmen kann. Alles ist möglich.“Diese Aussage lässt aufhorchen, denn noch immer betonen serbische Spitzenpolitiker wie der Belgrader Regierungschef Vojislav Kostunica, dass das Kosovo „auf ewig“ ein Teil Serbiens bleiben werde und genau dies ist in der im Oktober angenommenen neuen Verfassung Serbiens nochmals verankert worden.
Blerim Shala, der kosovarische Leiter der Wiener Verhandlungen und damit Samardzics Gegenüber, lehnt ein Verhandlungsmoratorium ab: „Die serbischen und unsere Positionen sind klar, daran wird sich auch in den nächsten 15 Jahren nichts ändern.“ Es müsse jetzt eine Entscheidung her, selbst wenn eine Seite nicht einverstanden sei. „Eine rasche Klärung der Kosovo-Frage ist für die Stabilität des ganzen Balkan von immenser Bedeutung.“
Shala, Chefredakteur der kosovo-albanischen Tageszeitung „Zeri“, hält die Ängste vieler Kosovo-Serben, nach einer Unabhängigkeit nur noch Bürger zweiter Klasse zu sein, für unbegründet und appelliert an die einflussreiche serbisch-orthodoxe Kirche, die Serben zum Bleiben aufzurufen. Shala zählt zahlreiche Maßnahmen auf, mit denen das Vertrauen der serbischen Minderheit in ein unhängiges Kosovo gestärkt werden soll: Serbisch bleibt Amtssprache im ganzen Kosovo, es besteht die Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft, die serbischen Schulen im Kosovo können die Lehrpläne aus Serbien übernehmen, um die serbischen Kulturgüter werden besondere Schutzzonen angelegt, die Serben haben weiterhin zehn der 120 Sitze im Parlament garantiert. Dies alles werde unter internationaler Aufsicht geschehen. „Und wir wollen, dass die Friedenstruppe KFOR auch in einem unabhängigen Kosovo präsent bleibt.“ Derzeit sind unter der Führung eines deutschen Generals 16 300 KFOR-Soldaten aus 35 Ländern im Kosovo stationiert. Deutschland stellt mit 2700 Soldaten das größte Kontingent.
Die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates wird wohl kurz nach den serbischen Parlamentswahlen vom 21. Januar 2007 fallen. Angesichts der gegensätzlichen Fronten wird es tiefe Enttäuschungen geben, mindestens auf einer, vielleicht aber auch auf beiden Seiten. Doch viele Bürger bewegt weniger die große Politik. „Es kommt nicht so darauf an, ob das Kosovo unabhängig wird oder nicht. Viel wichtiger ist, dass dort die Voraussetzungen für ein normales Leben gegeben sind“, sagt Vesna Ilic Spalevic. Die 35-jährige Serbin hatte das Kosovo beim Abzug der serbischen Armee im Sommer 1999 zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern fluchtartig verlassen. Seitdem lebt die Familie mehr schlecht als recht im Dorf Baric bei Belgrad. Wenn sie wüssten, dass sie im Kosovo in Sicherheit leben und arbeiten könnten, würden sie sofort dorthin zurückkehren, sagt Vesna Ilic Spalevic. Über die Albaner sagt sie: „Man kann nicht verallgemeinernd für ein ganzes Volk sprechen. Es gibt doch überall gute und schlechte Menschen.“