Die Last der kommunistischen Geschichte
Fatos Lubonja, einer der bekanntesten albanischen Publizisten, sucht noch immer seine Tagebücher, die ihm die Sigurimi (vergleichbar mit der deutschen Stasi) beschlagnahmte. Von 1974 bis 1991 verbrachte Lubonja in verschiedenen Sigurimi-Gefängnissen, auch im „Spaçi“, dem Hochsicherheitsgefängnis Albaniens. Die Arbeit im Steinbruch gehörte für hunderte von Gefangenen noch zu den milderen der „Umerziehungstätigkeiten“. Jetzt wartet Lubonja gespannt, wie die aktuelle Debatte um die Öffnung der Sigurimi-Akten ausgehen wird. Allen bisherigen Regierungen war die Debatte bislang zu heiß. Es hieß, die albanische Gesellschaft sei dafür noch nicht reif. „Blödsinn“, meint der 55-jährige Lubonja, „es ist eher zu spät als zu früh.“ Zu gerne hätte er die Namen seiner Denunzianten erfahren.
Doch nun, da ein Gesetz in Vorbereitung ist, ist der preisgekrönte Schriftsteller skeptisch. Er schließt nicht aus, dass genau diejenigen, die selber Informanten waren, jetzt die Aktenöffnung unter ihrer Regie durchführen wollen, um die Kontrolle zu behalten. „Man muss fragen, wer die Akten jetzt öffnen möchte und warum?“ Politisches Ping-Pong-Spiel mit den Sigurimi-Akten Grund für das Aufflammen der Debatte in Albanien ist eine Resolution des Europarates, die Verbrechen des Kommunismus zu verurteilen.
In Albanien herrscht derzeit Kommunalwahlkampf. Sowohl die regierende Demokratische Partei, als auch die Opposition versuchen die Diskussion in ihrem Sinne zu nutzen. Die Opposition verkündete, dass die Hälfte der aktuellen 14 Minister nicht „sauber“ sei und druckte sogar in ihrem Parteiblatt 46 Tarnnamen ehemaliger Sigurimi-Informanten, die entweder in der politischen Szene eine aktive Rolle spielen, oder ihr sehr nahe stehen.Dieses Spiel mit Verdächtigungen ist in den letzten 15 Jahren oft gespielt worden. 1995 verabschiedete das albanische Parlament sogar ein Gesetz zur Kontrolle der Politiker und Beamten in hohen Positionen, das 1998 auf internationalen Druck noch nachgebessert wurde. Eine Kommission zur Kontrolle der hochkarätigen Politiker und Beamten untersuchte bis 2001 rund 6000 Personen und identifizierte unter ihnen 104 „unsaubere“. Doch dabei blieb es. Und die übrigen, bis zu 300.000 inoffiziellen Mitarbeiter der Sigurimi lebten weiter in der Hoffnung, dass ihre Geschichte wohl stillschweigend begraben würde.
Nun aber sind sich alle politischen Parteien im Lande einig: Die Akten müssen geöffnet werden. Es gibt acht Kategorien von Personen, die nun überprüft werden sollen: Präsident, Premierminister, Abgeordnete, Minister und ihre Stellvertreter, Mitglieder des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichtshofes sowie Personen in Führungspositionen, die zwischen dem 29.11.1944 und dem 31.12.1992 Mitglieder des politischen Büros der kommunistischen Arbeiterpartei waren. Auch die Akten über Staatsanwälte, Offiziere, Abteilungsleiter und Informanten der Sigurimi sollen geöffnet werden. Journalisten und Hochschulmitarbeiter sollen nicht betroffen sein. Eine neue Kommission will innerhalb von sechs Monaten alle Daten auswerten und das Ergebnis der Öffentlichkeit bekannt geben. Im Gegensatz zur ersten Prüfungskommission wird diese aber nicht unabhängig, sondern staatlich kontrolliert sein.
Seit Jahren veröffentlichen in Albanien verschiedene Tageszeitungen Erinnerungen von Kriegsveteranen, Chauffeuren, Bodyguards und Köchen des Diktators Enver Hoxha und seiner Kaste, die die kommunistische Diktatur verharmlosen und teilweise idealisieren. Deshalb sieht der Publizist Lubonja eine Enttarnung der Sigurimi-Mitwirkenden als eine wichtige moralische Aufgabe, trotz seiner Skepsis, dass „die Akten wieder einmal politisch benutzt werden könnten.“
Doch nun stellt sich die Frage, wie viele Akten überhaupt noch existieren? Nach der Wende gelang es Lubonja, seine Akten einsehen zu dürfen. Außer einem Manuskript, das ihm bei der Festnahme abgenommen wurde, fand er nichts. „Die Akten der politischen Gefangenen waren normalerweise hunderte bis tausende Seiten schwer, selbst in der Zelle waren wir von Spionen umgeben. Aber so was, gar keine Akte?!“ Das Archiv bei SHISH, der albanische Nachrichtendienst, scheint geplündert zu sein.
Vor kurzem sagte Fatos Klosi, einer der letzten SHISH-Leiter unter den Sozialisten, dass viele Dossiers von seinem Vorgänger in den Jahren 1995-1997 verbrannt oder entwendet worden seien. Dagegen meinte Bashkim Gazidede, besagter Vorgänger, die Akten seien viel früher zerstört worden, nach seiner Amtsübernahme hätte er bereits den Verlust von etwa 40.000 Akten festgestellt. Der Historiker Beqir Meta, Leiter des Nationalen Historischen Museums bestätigt, dass die Mehrzahl der Sigurimi-Akten, besonders diejenigen, die wichtige Verbrechen während und nach Enver Hoxhas Regime dokumentierten, bereits vor 1990 zerstört wurden, viele weitere dann zwischen 1990 und 1992, noch vor den ersten demokratischen Wahlen. Ein großes Stück Geschichte aus dem Sigurimi-Puzzel wird den Historikern und mehr noch den Opfern der Diktatur also für immer fehlen.