Bosnien-Herzegowina

Mehr als eine Fußnote in Schulbüchern

61 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war der Holocaust in Südosteuropa erstmals das Thema einer wissenschaftlichen Konferenz in der Region selbst. In Sarajewo diskutierten Ende Oktober über 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 14 Ländern über den Stand der Holocaustforschung in Südosteuropa. Gemeinsame Veranstalter der dreitägigen Konferenz waren die Jüdische Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina und das deutsche Goethe-Institut in Sarajewo. In seinem Eröffnungsreferat erklärte der Holocaust-Forscher Walter Manoschek von der Universität Wien, dass allein von den etwa 80'000 auf dem Territorium des damaligen Jugoslawien lebenden Juden 55'000 bis 60'000 im Holocaust umgebracht wurden. Auch 4000 ausländische jüdische Flüchtlinge wurden ermordet. Damit gehöre Jugoslawien zu jenen Ländern, in denen die Nazis und ihre Verbündeten den geplanten Massenmord am effektivsten organisieren und ausführen konnten, so Manoschek. Neben den Ländern des ehemaligen Jugoslawien thematisierte die Konferenz aber auch den Holocaust in Albanien, Bulgarien, Moldova, Rumänien und Ungarn.
Blick aus dem Jüdischem Museum in Sarajevo / Jo Dethlefs, n-ost

Dass erst jetzt erstmals in Südosteuropa wissenschaftlich über den Holocaust diskutiert wurde, erklärt sich Jakob Finci, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina am Beispiel Jugoslawiens so: „In unserem Sozialismus galten alle im Zweiten Weltkrieg Umgekommenen gleichermaßen als Opfer des Nazi-Faschismus.“ Aus diesem Blickwinkel sei bei 1,7 Millionen jugoslawischen Toten die Zahl der 60'000 ermordeten Juden eben zu klein gewesen, um besonders wahrgenommen zu werden. Und nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sei die Region erneut von Krieg überzogen worden. „Da kümmerte sich niemand mehr um den Holocaust.“ Aber jetzt, so Finci weiter, sei die Bühne endlich frei, den Holocaust in der Region auch wissenschaftlich zu diskutieren, „und nicht nur politisch instrumentalisiert wie so oft bis anhin“.

Finci spricht damit die auch bei der Konferenz thematisierte Auseinandersetzung um die Anzahl der auf jugoslawischem Boden ermordeten Menschen an. Ein Streit, der vor allem zwischen serbischen und kroatischen Historikern und Politikern geführt wird. Er dreht sich zentral um die Frage, wer wie viele Menschen welcher Volksgruppe umgebracht hat. Die Opfer des Holocaust würden oft nur erwähnt, um das eigene Schicksal mit jenem der Juden im Zweiten Weltkrieg auf eine Ebene zu stellen, so Finci. Dies gelte sowohl für den Zweiten Weltkrieg wie auch für die Kriege im auseinander gebrochenen Jugoslawien der 1990er-Jahre. Diese Relativierung und Instrumentalisierung des Holocaust wurde denn auch von Referenten der Konferenz heftig kritisiert.Aus den Vorträgen mehrerer junger Wissenschaftler wurde deutlich, dass der Holocaust bis heute in den Schulbüchern der Länder des ehemaligen Jugoslawien kaum oder gar nicht erwähnt wird. Geht es um den Zweiten Weltkrieg, dann steht meist die Opferrolle der eigenen und die Täterrolle einer oder mehrerer anderer Volksgruppen der Region im Vordergrund. Die jüdischen Opfer werden bestenfalls in Aufzählungen mit erwähnt.

Es sei dringend notwendig, in der schulischen Ausbildung dem Holocaust viel mehr Gewicht zu geben, um auch daraus zu lernen, betonte Michael Schroen, Leiter des Goethe-Institutes Bosnien-Herzegowina, in seinem Schlusswort. „Es kann nicht sein, dass der Holocaust in den Lehrbüchern nur als Fußnote vorkommt.“ Was die Zukunft der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Südosteuropa betrifft, ist Schroen aber zuversichtlich. Die Konferenz habe gezeigt, wie viele junge Forscherinnen und Forscher aus der Region und darüber hinaus sich mit dem Thema beschäftigen. „Die Holocaust-Forschung in Südosteuropa ist langfristig gesichert.“Doch der Jüdischen Gemeinde und dem Goethe-Institut ist es ein Anliegen, dass das Thema Holocaust auch in der bosnisch-herzegowinischen Öffentlichkeit in Zukunft größere Beachtung findet. Die Veranstalter nehmen die Konferenz deshalb zum Anlass, die am 1. Oktober neu gewählten politischen Verantwortlichen des Landes in einer Petition an die bislang nicht erfüllten Verpflichtungen Bosnien-Herzegowinas zu erinnern, die das Land mit seiner Unterschrift unter die „Stockholm-Deklaration“ vom Januar 2000 einging. Darin verpflichteten sich die mehr als 40 Unterzeichner-Staaten, einen jährlichen Holocaust-Gedenktag einzuführen sowie Forschung und Ausbildung zum Thema Holocaust zu stärken. Leiter der bosnisch-herzegowinischen Delegation in Stockholm war Haris Silajdzic, der gerade erst neu ins dreiköpfige Staatspräsidium gewählt wurde und deshalb nach Ansicht von Finci nun besonders in der Pflicht steht.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Bosnien-Herzegowina rund 14'000 Jüdinnen und Juden. Heute sind es noch etwas mehr als 1000, knapp 200 von ihnen sind Holocaust-Überlebende. Zu ihnen gehört auch die 82-jährige Greta Ferusic. Die erimitierte Professorin für Architektur der Universität Sarajewo ist die einzige Auschwitz-Überlebende in ganz Bosnien-Herzegowina. Über ihre Zeit im Konzentrationslager sagt sie: „Manchmal glaubte ich, die Sonne hätte aufgehört zu scheinen“. Die Zeit in Auschwitz wolle sie aber nicht vergleichen mit den mehr als dreieinhalb Jahren im belagerten Sarajewo von 1992 bis 1995. „Beides war furchtbar.“ Bei Auschwitz habe sie gewusst, dass die Ideologie des Bösen aus der Ferne, von Fremden kam. „Aber die Belagerung von Sarajewo, das organisierten doch Leute, mit denen ich zusammengelebt hatte“, schüttelt Greta Ferusic, die nach dem Zweiten Weltkrieg sieben Jahren in Belgrad wohnte, bevor sie 1952 nach Sarajewo kam, noch heute den Kopf.Immerhin: Judenfeindlichkeit musste Greta Ferusic nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz nicht mehr erleben. „Ich bin stets dazu gestanden, dass ich Jüdin bin – und hatte nie Probleme damit.“

Auch Jakob Finci bestätigt, dass es „in Bosnien-Herzegowina eigentlich keinen Antisemitismus“ gebe. Die Juden seien akzeptiert und gut integriert in der Gesellschaft. Dies hängt mit Sicherheit auch damit zusammen, dass die Jüdische Gemeinschaft während des Kriegs 1992 bis 1995 auf allen Seiten Hilfe leistete, so gut sie konnte. So besorgte beispielsweise die lokale jüdische Organisation „La Benevolencija“ 40 Prozent der Medikamente, die in den Kriegsjahren das belagerte Sarajewo erreichten. Augenzwinkernd und nachdenklich zugleich meint Finci: „Einige meiner Kollegen sagen zudem, die drei großen Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina seien so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu hassen, dass für Judenhass keine Zeit mehr übrig bleibe.“
 


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