Vom Leben im Sandwich
Im heutigen Kosovo ist Lipljan eine ungewöhnliche Kleinstadt. Rund 10.000 Menschen wohnen hier, in der Mitte der Provinz, etwa eine Stunde westlich von Prishtina. Von weitem schon sind zwei Kirchtürme sichtbar, an der Ortseinfahrt lädt das „Restoran Zarko“ zum Mittagstisch, Schilder in serbischer und albanischer Sprache stehen am Straßenrand. In Lipljan leben Albaner und Serben – nicht miteinander, aber zumindest nebeneinander.
Neben „Skenderbeg-Platz“, benannt nach dem albanischen Nationalhelden, liegt ein Kirchgarten. Darin befinden sich einige Grabsteine, eine alte serbisch-orthodoxe Steinkirche aus dem 14. Jahrhundertund ein neues Gotteshaus aus dem 20. Jahrhundert. Lipljan war seit dem Mittelalter Bischofssitz der serbisch-orthodoxen Kirche. Heute amtiert Bischof Teodosije in der Stadt. Die beiden Gebäude sind behutsam renoviert und frei zugänglich. Anders als in den meisten Orten im Kosovo grenzt kein Stacheldrahtzaun die Kirchen ab, keine Panzer, keine bewaffneten Soldaten sind davor postiert. Allerdings befindet sich ein Wachturm der finnischen KFOR nur 100 Meter weit entfernt – er übersieht die ganze Gegend.
Kosovska-Mitrovica / Jutta Sommerbauer, n-ost
Zhivorad Borisavljevic vor seinem Kiosk / Jutta Sommerbauer, n-ost
Der Arbeitsplatz von Zhivorad Borisavljevic ist eine kleine Holzbude, die auf dem Kirchengelände steht. Hier verkauft er an die serbischen Bewohner Zeitungen, die tagtäglich aus Belgrad geliefert werden. Besuchern, die die Kirchen besichtigen wollen, öffnet der Pensionär die Tore und bietet Kerzen zum Verkauf an. Borisavljevic, der sich mit seiner Arbeit die Rente aufbessert, stammt selbst aus dem nahe gelegenen Dorf Srpski Babusch. „Während des Krieges sind wir hierher geflüchtet“, erzählt der 64-Jährige. Sein Dorf hätten die Albaner völlig zerstört.
Bis 1999 war Lipljan zu 90 Prozent von Serben bewohnt – eine von mehreren serbischen Enklaven in der näheren Umgebung von Prishtina. Doch seitdem sind viele weggezogen. Von den 1,9 Millionen Einwohnern des Kosovo sind heute 90 Prozent albanischer Abstammung. Etwa 100.000 Serben leben noch in der Provinz, rund sechs Prozent der Bevölkerung. In Lipljan selbst ist heute etwa die Hälfte der Bewohner kosovo-albanischer Herkunft. Die einst hier lebenden Roma haben nach Übergriffen albanischer Nationalisten die Region überwiegend verlassen. Gemischt-ethnische Orte, in denen die Bewohner Seite an Seite leben, sind selten geworden. Von 71 Siedlungen in der Region sind nur 13 gemischt, 52 sind rein albanisch und sechs serbisch.
Auch Zhivorad Borisavljevics Kinder leben nicht länger im Kosovo. Seine Tochter und sein Sohn sind seit einigen Jahren im sicheren Serbien. Zurückgeblieben sind vor allem die Älteren, die nicht weg wollen. Obwohl sein Dorf nach dem Abzug der serbischen Truppen im Winter 1999 zerstört wurde, hat der alte Mann immer noch albanische Bekannte: „Wir verstehen uns eigentlich ganz gut mit den hiesigen Albanern.“ Will er in sein ehemaliges Dorf fahren, muss er dies heute jedoch mit Polizeibegleitung tun.
Gemeinsam mit anderen ehemaligen Bewohnern wird Zhivorad Borisavljevic tagtäglich zu seinem ehemaligen Dorf gefahren – unter KFOR-Bewachung geht es am Vormittag hin, und am Nachmittag wieder zurück. Durch ein von der UNDP verwaltetes Projekt soll das Dorf wiederaufgebaut und 70 Familien die Rückkehr ermöglicht werden.
Von der Landstraße zweigt ein holpriger Weg ab, ein Straßenschild nach Srpski Babusch gibt es keines mehr. Auf dem flachen Feld erinnern heute nur noch Ruinen an das ehemalige Dorf. Zhivorad Borisavljevic weist auf ein paar Trümmer neben dem Feldweg. Hier habe man im Jahr 1999 begonnen, eine Kirche zu errichten – dann sei der Krieg dazwischen gekommen. Einige haben nun begonnen, auf ihren alten Grundstücken neue Häuser zu errichten.
Auch auf Zhivorad Borisavljevics Bauplatz stehen schon wieder die Grundmauern. Ein kleineres Häuschen als das frühere wird es diesmal werden, erklärt er und führt durch die zukünftigen Räume: zwei Zimmer, eine Küche. In wenigen Wochen wolle er hier wieder einziehen. Ob er dann nicht auch hier Bewachung brauchen werde? Das wisse er nicht, antwortet der alte Mann, er hoffe aber, hier einen ruhigen Lebensabend verbringen zu können. Nur wenn das Kosovo tatsächlich unabhängig wird, will auch er das Land verlassen. „Dann gehe ich mit meiner Frau zu den Kindern nach Serbien. Aber so weit wird es nicht kommen!“ ist er gewiss. Sich vorstellen, dass Serbien ein unabhängiges Kosovo akzeptieren wird – das kann und will er nicht. Schließlich hat in seinen Augen auch Ratko Mladic in Bosnien nichts anderes getan als „seine Heimat verteidigt“. Auch das Kosovo, fährt er fort, sei das „Heimatland der Serben“.Vom Ruhm des mittelalterlichen serbischen Königreichs sind neben den Enklaven heute noch einige streng bewachte Klöster übrig geblieben – wie jenes in Visoki Decani.
Dort wird man erst nach der Kontrolle durch zwei KFOR-Checkpoints in den Klostergarten vorgelassen. Die Mönche leben abgeschlossen von der Außenwelt – hinter hohen Steinmauern, umgeben von Stacheldrahtrollen. In der Vorhalle der mit kunstvollen Fresken geschmückten Hauptkirche verkauft ein junger Ordensmann Ikonen und Postkarten. Hier liegt auch das Memorandum der heiligen Synode für Kosovo und Metohija aus. Das Kosovo sei für die Serben wie Jerusalem für die Juden, steht in dem Büchlein geschrieben. „Wie Jerusalem ist das Kosovo keine Frage der Geographie oder der Demographie.
Das Kosovo ist eine Frage der Identität: national, spirituell, kulturell, christlich und menschlich.“ Von dieser Wunschvorstellung ist die Realität jedoch weit entfernt. Außer den Mönchen gäbe es in der Region keine Serben mehr, erklärt der junge Geistliche. Würden italienische KFOR-Soldaten nicht Wache schieben, wäre das Kloster wohl schon längst einem nationalistischen Angriff zum Opfer gefallen, wie dies zuletzt im März 2004 passierte. Nachdem kosovo-albanische Nationalisten ein falsches Gerücht über die Ermordung albanischer Kinder durch Serben gestreut hatten, waren damals im Kosovo insgesamt 30 serbisch-orthodoxe Gotteshäuser und 800 von Serben bewohnte Häuser von einem aufgestachelten Mob zerstört worden.
Die Frage der serbischen Minderheit steht auch im Mittelpunkt der Statusverhandlungen. Die Serben verfügen – im Gegensatz zu den kleineren Minderheiten der Roma, Ashkali, Kosovo-Ägypter, Goranci oder Torbeschen – über eine staatliche Lobby. Doch der Vorschlag einer Dezentralisierung, die de facto zu einer weitgehenden Autonomie serbischer Enklaven führen würde, wird von kosovo-albanischer Seite ebenso scharf abgelehnt, wie die Forderung nach der Unabhängigkeit des Kosovo von serbischer Seite.
Mittlerweile findet auf kosovo-albanischer Seite eine erregte Debatte darüber statt, ob überhaupt noch mit Serbien verhandelt werden soll. Die LPV, die in der Tradition des Linksnationalismus Enver Hoxhas stehende „Bewegung für Selbstbestimmung“ um den 31-jährigen charismatischen Führer Albin Kurti, verlangt auf Demonstrationen, Plakaten und Graffitis die einseitige Ausrufung der Unabhängigkeit und polemisiert gegen die „kolonialistische UNMIK-Verwaltung“.
Auch Zhivorad Borisavljevic ist sich im Klaren darüber, dass die Kosovo-Albaner die Dinge ganz anders sehen als er, natürlich. Und er weiß, dass es um das Verbleiben des Kosovo bei Serbien schlecht steht. Der Realität schaut man hier ungern in die Augen. Bei der Rückfahrt aus dem Dorf deutet Zhivorad Borisavljevic aus dem Autofenster. „Wir sind in einem Sandwich“, sagt er – ein paar Serben, umgeben von albanischen Dörfern. Grund genug für Borisavljevic, weiterhin auf Unterstützung aus Belgrad zu hoffen.