Die Erinnerung an 1956 spaltet Ungarn
Die Nationalfarben Rot, Weiß und Grün bestimmen das Bild von Budapest zum Jubiläum des Aufstands gegen den Kommunismus vor 50 Jahren. Die Trikolore schmückt zahlreiche Häuser, Brücken und alle offiziellen Gebäude. Nachts erstrahlt sogar das Parlament in den Landesfarben. Doch wer glaubt, das ganze Land würde sich stolz und einig hinter seiner Fahne versammeln, der irrt. Am Montag zogen Tausende Regierungsgegner mit der Nationalflagge in den Händen durch die Straßen und stießen schon am Vormittag mit der Polizei zusammen, die massiv vertreten war. Es gab erste Verletzte und Verhaftungen. Nachmittags setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas gegen kleinere Gruppen ein. Die Demonstranten protestierten gegen Premier Ferenc Gyurcsany, in dem sie einen Lügner sehen und einen Nachfolger des kommunistischen Regimes, das sich 1956 mit Unterstützung von Sowjettruppen blutig gegen die Aufständischen durchsetzte. Die Menge skandierte „Gyurcsany hau ab“ und forderte einen „kompletten Systemwechsel“, wobei unklar blieb, was damit gemeint war.
Die Zusammenstöße überschatteten die offiziellen Feiern, an auch der deutsche Bundespräsident Horst Köhler teilnahm / n-ost
Infokasten:
Ungarnaufstand 1956
Am 23. Oktober 1956
initiieren Budapester Studenten eine Solidaritätsdemonstration mit
polnischen Arbeitern, deren Proteste in Posen im Sommer 1956
niedergeschlagen worden waren. Dem genehmigten Demonstrationszug
schließen sich überraschend 300.000 Budapester an. Auf dem Heldenplatz
wird das Stalin-Denkmal gestürzt. Die Studenten wollen ihre Forderungen -
darunter Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen,
Mehrparteiensystem, größere Unabhängigkeit von der Sowjetunion - im
staatlichen Rundfunk verlesen, doch aus dem Rundfunkgebäude im Stadtteil
Pest wird das Feuer auf sie eröffnet - der Beginn blutiger Kämpfe.
Bereits am 24. Oktober weitet sich der Protest auf andere Städte aus, ein landesweiter Generalstreik wird ausgerufen. Am 25. Oktober schießen Mitglieder des ungarischen Staatssicherheitsdienstes vor dem Parlament auf Demonstranten, dabei sterben mehr als 100 Menschen. Überraschend setzt die Kommunistische Partei Parteichef Ernő Gerő ab und ernennt den beliebten Reformkommunisten Imre Nagy, der bereist 1953 Premierminister war, erneut zum Regierungschef. Einen Moment sieht es so aus, als würden sich die sowjetischen Truppen zurückziehen und das Land freigeben. Doch als Nagy am 30. Oktober eine Mehrparteienregierung bildet und die Neutralität Ungarns sowie den Ausstieg aus dem Warschauer Pakt verkündet und gleichzeitig Parteifunktionäre und Geheimdienstler von Aufständischen gelyncht werden, setzen sich in Moskau die Hardliner durch.
Die noch in Ungarn stationierten und neu eingerückte Truppen schlagen zwischen dem 4. und 15. November den Aufstand blutig zurück. Dabei kommen auf ungarischer Seite vor allem in Budapest mindestens 2700 Menschen ums Leben. Eine Unterstützung aus dem Westen für die Aufständischen bleibt trotz gegenteiliger Versprechen vor allem von Seiten der USA und Radio Free Europe aus. Imre Nagy wird am 22. November verhaftet und im Juni 1958 nach einem Schauprozess hingerichtet. Seine Rolle ist bis heute nicht ganz geklärt. Nach der politischen Wende in Ungarn wurde sein Leichnam exhumiert und in Ehren bestattet, inzwischen ist jedoch auch bekannt, dass er einst in der Sowjetunion ein gläubiger Stalinist war. Insgesamt werden nach dem Aufstand an 350 Personen Todesurteile vollstreckt. Rund 200.000 Ungarn flüchten ins Ausland, insbesondere nach Österreich.
Mit einem massiven Aufgebot ging die ungarische Polizei gegen
Demonstranten vor. Foto: Thorsten HerdickerhoffDer 23. Oktober 1956 ist
eigentlich ein Datum, auf das nahezu alle Ungarn heute mit Stolz blicken
könnten. An diesem Tag gingen in Budapest 300.000 Menschen auf die
Straße, demonstrierten für Menschenrechte und Demokratie und erzwangen
die Absetzung des kommunistischen Parteichefs Ernő Gerő. Unter dem
Reformkommunisten Imre Nagy begann damals ein kurzer demokratischer
Frühling, der schließlich von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde.
Doch ausgerechnet zum 50. Jahrestag befindet sich die junge Demokratie
in Ungarn in ihrer schwersten Krise.
Eigentlich hatten sich alle
politischen Parteien darauf geeinigt, die Feiern nicht für eigene
Zwecke zu instrumentalisieren. Seitdem aber die amtierende Regierung die
Steuern wie aus heiterem Himmel massiv erhöht hat und vor vier Wochen
die Tonaufnahme von Gyurcsanys Eingeständnis veröffentlicht wurde, die
Ungarn vor den Parlamentswahlen im Frühjahr belogen zu haben, nutzt
Victor Orban, der Chef der rechtskonservativen Oppositionspartei Fidesz,
jede Gelegenheit, die Regierung zu bekämpfen. Selbst wenn an ein
Ereignis erinnert wird, welches für das ungarische Selbstverständnis so
wichtig ist, wie kaum ein anderes. Die Erinnerung an 1956 spaltet die
Gesellschaft nun ziemlich genau entlang des tiefen Grabens zwischen
links und rechts. Die Rechten sehen in dem Aufstand eine bürgerliche
Revolution gegen das kommunistische Regime, dessen Nachfolger die nun
regierende Sozialistische Partei MSZP sei. Und diese verrate mit ihrer
derzeitigen Politik nun diese Revolution. Peter Kende, der Vorsitzende
des Instituts für die Erforschung des Aufstands von 1956, meint dagegen:
„Man kann sehr viel über die Revolution sagen, aber nicht, dass es eine
bürgerliche war.“
Die Linken betonen umgekehrt den starken
reformkommunistischen Impuls der Oktobertage 1956 und wenden sich gegen
den Missbrauch des Datums durch Nationalisten und Rechtsextreme. Diesen
Missbrauch sieht auch Kende, doch er betont die vielen Strömungen des
Aufstands. Wenn er Erfolg gehabt hätte, „wäre Ungarn vielleicht ein
schwarz-rotes Land wie Österreich geworden“, vermutet Kende, „man weiß
es nicht.“ Der Streit um die Deutung von 1956 ist eine weitere Schlacht
im Kampf um die Geschichte, der Ungarn so tief spaltet. Auch zwei
weitere Phasen sind noch lange nicht aufgearbeitet: das kommunistische
Regime vor 1989 und das halb-autoritäre, zuletzt faschistische Regime
vor 1945.
Jedes der sich derzeit bekämpfenden Lager knüpft
teilweise an eine dieser Zeiten an, personell oder gedanklich, und wirft
der jeweils anderen Seite vor, sie behandle ihre Vergangenheit zu
unkritisch. Der aktuelle Umgang mit 1956 als geschichtlichem
Selbstbedienungsladen deutet darauf hin, dass beide Seiten Recht haben
könnten. Passend dazu wurden am Montag in Budapest gleich zwei Denkmäler
eingeweiht, die an den Aufstand 1956 und die geschätzten 2600 Toten
erinnern sollen, die er forderte. Eines ließ die Regierung am Budapester
Heldenplatz bauen, das andere eine Gruppe alter Widerstandskämpfer in
der Nähe eines Radiosenders, an dem der Aufstand begann. Das offizielle
Denkmal besteht aus einem kleinen Feld Stahlstelen, die zu einer Ecke
hin größer werden und enger stehen, bis sie einen soliden Block aus
Edelstahl bilden. Sie sollen die Macht der Menschen zeigen, die
gemeinsam für eine Sache einstehen. Aber der Entwurf zog viel Kritik auf
sich, vor allem weil er nicht öffentlich diskutiert wurde und viele an
das Berliner Holocaust-Mahnmal erinnert. Deshalb beschlossen einige
Widerstandskämpfer, ein Denkmal aus Stein zu errichten. Es steht für
dieselbe Idee gemeinsamer Stärke, ist aber gegenständlich und zeigt
menschliche Figuren. Das Steindenkmal wurde nachmittags von einer
Delegation alter Widerstandskämpfer eingeweiht, vor dem offiziellen
Denkmal versammelten sich Regierungsvertreter.