Versteinerte Gesichter beginnen zu lächeln
Es waren schreckliche Bilder, als die Georgier gegen die Sowjetmacht aufbegehrten. Am 9. April 1989 war Tamuna Maisuradse auf einem Schulausflug. Die Kinder wunderten sich über die lärmenden Hubschrauber in der Luft. In der Nacht darauf prügelten russische Soldaten auf eine anti-sowjetische Demonstration ein. Mit Gewehrkolben und angespitzten Spaten töteten sie mehrere Studenten. Der Anfang vom Ende der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) war besiegelt.
Die 27-jährige Tamuna arbeitet heute als Schwedischlehrerin an der Uni in Tiflis. Astrid Lindgrens Geschichten haben sie schon als Kind fasziniert. Doch als junge Teenagerin musste sie zunächst über „patronenübersäte Straßen” der Stadt gehen und sich mit ihrer Mutter stundenlang nach Brot anstellen. „Dann kamen plötzlich die Männer der 'Mchedrioni' und haben sich aus dem Laden einfach genommen, was sie brauchten.“
Buchladen mit georgischer Nationalflagge
und dem Porträt des jugendlichen Staatspräsidenten. /
R. Lemaitre
Nach der Unabhängikeit und dem kurzen Bürgerkrieg in Tiflis regierten die “Mchedrioni” die Straßen der Stadt. Die Mitglieder der bewaffneten Truppe mit einem schwarzen Kopfband als Erkennungszeichen, mordeten und stahlen, wie es ihnen gefiel. Verfolgung brauchten sie nicht zu Beginn der 1990er Jahre nicht zu fürchten.
Das stundenlange Anstellen nach Brot hat sich offenbar der jungen Generation, die die Sowjetzeit kaum noch bewusst erlebte, ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Auch Tornike Guruli fällt dies als erstes ein, wenn er über die Unabhängigkeit Georgiens spricht. Es war eine dunkle Zeit für ihn. „Wir hatten keinen Strom, kein Wasser und in der Schule im Winter keine Heizung”, erzählt der junge Mann, der heute mit Krawatte hinter einem Büroschreibtisch in Tiflis sitzt und die Öffentlichkeitsarbeit der „Assoziation junger georgischer Anwälte” organisiert, einer Menschenrechtsgruppe.
In den ersten Jahren der georgischen Unabhängigkeit, die 1991 endgültig besiegelt wurde, ging es noch wirr zu. „Ich hatte zwei Abschlusszeugnisse. Also habe ich mich damit bei zwei Universitäten gleichzeitig eingeschrieben. Das war zwar formal nicht korrekt, aber es hat auch niemanden wirklich gekümmert”, schmunzelt Tornike, der 2005 von einem dreijährigen Studium in Deutschland zurückkehrte. Er kam zurück in ein postrevolutionäres Georgien. Denn 2003 jagte man mit der „Rosenrevolution” das Regime von Eduard Schewardnadse aus dem Amt. Ein Ende von Stagnation und Korruption wurde zur Hoffnung der Demonstranten. „Es war eine neue Wende”, sagt Tornike. Man wollte ein neues Land aufbauen und Veränderungen selbst gestalten, ist der Medienfachmann überzeugt.
Die junge Generation setzt immer mehr auf einen westlich beeinflussten Individualismus. Geprägt von amerikanischen Popstars brechen immer mehr junge Leute mit dem traditionellen Leben der Elterngeneration, wonach jung geheiratet wird, die Frau in den Haushalt des Mannes und dessen Familie zieht und möglichst schnell Kinder in die Welt zu setzten hat. Tamuna, die ein Jahr in Schweden lebte, ist kürzlich unverheiratet mit ihrem vier Jahre jüngeren Freund zusammen in eine eigene Wohnung gezogen. Ihr Vater bestand auf eine Heirat. Doch seine Tochter mit der kleinen Statur widerstand ihm hartnäckig. „Er gewöhnt sich nun langsam daran”, sagt sie bittersüß und zeigt damit auch einen neuen Willen der jungen georgischen Frauen nach persönlicher Unabhängigkeit.
Äußerlich unterliegt Tiflis seit der Revolution vor drei Jahren einem massiven Wandel. Im Zentrum öffnen immer neue Geschäfte mit Westchic in den Fenstern. Die Männer ersetzen nach und nach die spitz zulaufenden schwarzen Lederschuhe gegen Sneakers von „Puma”. Das weiße Hemd weicht einem eng anliegenden Shirt. „Heute kann ein Mann sogar kurze Hosen tragen, zu Sowjetzeiten undenkbar”, fügt Tornike an und schüttelt mit dem Kopf. Die Männer ziehen nun den jungen Frauen nach, die schon früh westlich-europäischen Kleidungsstil auf dem Rustaweli-Boulevard im Zentrum präsentierten.
Die alten 'Wolgas' und 'Ladas' entwickeln sich zur blechernen Minderheit auf dem quirrligen Straßen der georgischen Hauptstadt. Klein- und Mittelklassewagen aus Deutschland sowie amerikanische oder asiatische Jeeps prägen nun das Bild in einem solchen Maße, dass Tiflis unterdessen unter einem Dauersmog leidet. Und wer ein bisschen Glück hat bekommt von der Kneipenbedienung den Drink mit einem freundlichen Lächeln serviert. In einem Land mit einer derart ernsten Mentalität, die Gesichter manchmal wie in Stein gemeißelt erscheinen lässt, ist das ein großer Schritt nach Westen. Das Wort „Service” beginnt die Runde zu machen.
Zum Problem entwickelt jedoch sich der rasante Anstieg des Drogenkonsums. Nicht zuletzt, weil Georgien an einem wichtigen Drogen-Transitkorridor liegt, wird mittlerweile im Jahresbericht eines UN-Kontrollgremiums von über 250.000 Drogenkonsumenten in Georgien ausgegangen. Nicht alle sind wirklich abhängig, aber für ein Land mit 4,7 Mio. Einwohnern eine „Katastrophe”, wie Anti-Drogen Aktivist Koka Tabortkwawa feststellt. Viele der junge Menschen spritzen sich den Stoff „Subutex”, der in Deutschland und Frankreich als Heroinersatzdroge medizinisch genutzt wird. Für Georgien ist das ein Westimport der ganz anderen Art mit weitreichenden Folgen.
Die vielgreiste Lika Sanikidse meint als Gesamturteil, dass es „besser wird in Georgien”. Die Jugendlichen hätten heute viel mehr Power, keine Scheu und wesentlich mehr Möglichkeiten, als sie es noch vor einigen Jahren hatten. „Und vor allem, sie sind heute schöner”, lacht sie verschmitzt. Lika, die mit 25 Jahren ein Buch für ein Tifliser Forschungsinstitut über die politischen Parteien Georgiens geschrieben hat, wünscht sich ein Georgien, in dem Rechtstaatlichkeit herrscht. Ein weiter Weg angesichts der hinter den Kulissen immer noch grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft in der jungen Demokratie. Doch dann wäre Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion die Wende in dem bergigen Land im Kaukasus wirklich geschafft.