Türkei

Geknebelte Freiheit

Der zierliche Mann mit dem dünnen Bärtchen deutet stolz auf die Fahne hinter seinem wuchtigen Schreibtisch. Sie ist blau im Stil der EU-Fahne, in der Mitte prangt jedoch statt der zwölf Sterne ein Hakenkreuz. „Die EU ist mit ihren ständigen Forderungen für uns eine faschistische Vereinigung“, verkündet Anwalt Kemal Kerincsiz forsch. „In unserem Land gibt es unverrückbare Werte, für die unsere Vereinigung eintritt.“Gemeint ist die ultranationalistische Anwaltsvereinigung „Büyük Hukukcular Birligi“ (Die große Anwaltsvereinigung). Sie ist verantwortlich für die Klagen gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk, den Journalisten Hrant Dink und die Schriftstellerin Elif Safak. In allen drei Fällen sahen die Anwälte das „Türkentum“ beleidigt. Die türkische Justiz stellte den Prozess gegen den diesjährigen Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk im Januar ein, nachdem die Klage gegen den Schriftsteller wegen seiner Äußerung, in der Türkei seien „eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden“, auf türkischer und europäischer Ebene zum Politikum geworden war.

Kemal Kerincsiz zischt verächtlich. Orhan Pamuks Bücher? „Ausfluss eines Junkers des Westens, erfolgreich nur wegen seiner provokanten Äußerungen zu den Armeniern.“ Es folgt eine lange Litanei voller Hass und paranoider Verschwörungstheorien. Doch trotz ihrer offensichtlich ideologischen Motivation gelang es den Anwälten drei Prozesse gegen Prominente in der Türkei anzuzetteln. „Wir erleben gerade einen Kampf der Zukunftsvisionen in der Türkei“, erklärt die 34-jährige Erfolgsautorin Elif Shafak. Die Klage gegen sie versandete am 21. September mit einem Freispruch. In ihrem Roman „Der Bastard von Istanbul“ wird ebenfalls die Verfolgung der Armenier durch die Osmanen am Rande des Ersten Weltkrieges thematisiert. Eine Romanfigur bezeichnet die Türken als „Metzger“ und „Mörder“. Das Istanbuler Gericht entschied, eine Romanfigur könne keine Straftat begehen. Shafak schmunzelt. Nach Ansicht der in Europa aufgewachsenen Autorin ringen EU-Gegner und Befürworter in der Türkei momentan miteinander. „Die einen wollen eine sich endlich mit ihrer kosmopolitischen Vergangenheit auseinandersetzende Türkei, die anderen ein xenophobes, isoliertes Land mit Schattenstrukturen hinter einer demokratischen Fassade.“ Dieser Dualismus prägt momentan die Rechtsprechung in den zahlreichen Zensur-Prozessen in der Türkei. Trotz einer Gesetzesreform 2004 beinhaltet das türkische Strafrecht zahlreiche Paragraphen, derer sich die Staatsanwälte und die Nationalisten als Nebenkläger in Strafrechtsprozessen bedienen können. Die Anklagen klingen immer gleich absurd: Verunglimpfung des „Türkentums“ oder des „Andenkens an den Staatsgründer Atatürk“, des „Militärs“, wahlweise auch der „staatlichen Führung und ihrer Beamten“ oder der „Werte des Volkes“. In diesem Jahr wurden 96 Schriftsteller und Journalisten aufgrund dieser Anschuldigungen strafrechtlich verfolgt. Acht weitere warten bis Ende des Jahres auf den Beginn ihres Verfahrens.

Die türkische „Stiftung für Menschenrechte“ konstatiert 14 die Meinungsfreiheit einschränkende Paragraphen. Der Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitschrift „Agos“, Hrant Dink,  bejahte im Juli in einem Interview mit der Agentur Reuters die Frage, ob es seiner Meinung nach im Osmanischen Reich einen Völkermord an den Armeniern gegeben hat. Damit ist nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der Tatbestand der „Beleidigung des Türkentums“ erfüllt. Nur ein Tag nach dem Freispruch für Elif Shafak wurde ein Verfahren eröffnet. Im Falle einer Verurteilung muss Dink auch eine im Oktober vorigen Jahres verhängte Strafe von sechs Monaten auf Bewährung antreten. Der in diesem Jahr mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnete Journalist scheut keine Fronten. Den gerade im französischen Parlament angenommene Gesetzesentwurf, der die Leugnung des Völkermords an den Armenier unter Strafe stellt, kommentiert Dink mit den Worten, sobald das Gesetz in Kraft trete, reise er nach Frankreich und leugne den Völkermord. „Dann kann ich mir demnächst aussuchen, in welchem Land ich im Gefängnis sitzen möchte“, lacht er lakonisch.

Humor darf Intellektuellen in der Türkei momentan nicht fehlen. Die juristischen Kuriositäten reißen nicht ab. Der Journalistin Ipek Calislar etwa drohen viereinhalb Jahre Haft wegen einer Passage in ihrer Biographie über die Ehefrau des Staatsgründers Atatürk, Latife. Darin schildert sie, wie Latife in der Gründerphase der Republik ihren Mann vor der Ermordung durch Putschisten rettete. Mustafa Kemal Atatürk verließ demnach mit dem Ganzkörperschleier seiner Frau bekleidet das von Rebellen umstellte Haus. Obwohl Calislar zwei Quellen für diese Anekdote anführt, wurde ein Verfahren wegen „Beleidigung Mustafa Kemal Atatürks und der Nation“ eröffnet.
 
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan müsste es besser wissen. 1999 rezitierte er ein Gedicht, in dem die Minarette als Speere, Moscheekuppeln als Schutzschilder und die Gläubigen als Soldaten des Islam bezeichnet werden - und wanderte wegen Volksverhetzung vier Monate ins Gefängnis. Dennoch reagiert der Regierungschef gereizt auf die kreativen Darstellungen seiner Person als Tier. Gegen den Karikaturisten Musa Kart strengte er Anfang des Jahres wegen einer harmlosen Darstellung seiner Person als Katze eine Beleidigungsklage mit Entschädigungsforderungen an. Der Ministerpräsident verlor gegen Kart, das hinderte Erdogan jedoch nicht daran, diesen Sommer eine weitere Klage gegen den Zeichner Mehmet Cagcag zu erheben. Er stellte Mitte Juli auf der Titelseite der Satirezeitung Leman den Ministerpräsident als Zecke am Hals des türkischen Bürgers dar. Anfang November beginnt nun das Verfahren, in dem es um 12.000 Euro Entschädigungszahlungen gehen soll.
 
Für die Nationalisten ist die türkische Regierung angesichts des steigenden Drucks aus Brüssel dennoch viel zu kompromissbereit. Außenminister Abdullah Gül verweist in diesen Wochen angesichts der drohenden Schelte im Anfang November erscheinenden EU-Fortschrittsbericht zur Türkei stets darauf, die korrekte Implementierung des türkischen Strafrechts brauche noch Zeit. Doch welche Zeiten sollen noch anbrechen für unzeitgemäße Gesetze?


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