Albanien

Balkanland im Wandel

Noch heute treibt die Erinnerung an den geplatzten Traum dem Mittsiebziger Hasan die Tränen in die Augen. Sein Vater, ein wohlhabender Zahnarzt, wollte ihn ans Gymnasium Theresianum in Wien schicken. Doch der Zweite Weltkrieg und die anschließende Diktatur des ehemaligen Partisanenführers Enver Hoxha machten alle Pläne zunichte. So blieb Hasan in seiner Heimatstadt Shkodra im Norden des inzwischen stalinistisch gewordenen Albaniens.

Als Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik brachte er seine Familie mit einem Monatslohn von zuletzt acht Euro durch, bevor das kommunistische Regime Anfang 1991 zusammenbrach. Für Hasans Familie begann ein neues Leben. Endlich bekam sie ihr stattliches Haus wieder zurück, das ihr der Staat 1956 weggenommen hatte. "Nur für sechs Monate, hatte es damals geheißen", erinnert sich Hasan. Doch es wurden 35 Jahre, während derer ein Kindergarten im Gebäude untergebracht war. Hasans Familie überließ man ein einziges Zimmer. "Als das Regime gestürzt war, nagelte ich die Türen von innen zu, damit die Kinder nicht mehr in mein Haus konnten". Jetzt stehen die Türen von Hasans Haus wieder weit offen, an der Fassade ist in großen, farbigen Lettern "Hotel" zu lesen. Anfänglich vermietete er ab und zu Privaträume, 1996 baute er im Garten daneben – "dort, wo ich im Kommunismus die besten Tomaten von ganz Shkodra zog" – ein zusätzliches Gebäude mit zwölf Hotelzimmern.

Shkodra ist mit etwa 130.000 Einwohnern die wichtigste Stadt in Albaniens Norden und mit einer gut ausgebauten Straße mit der Hauptstadt Tirana verbunden. Dies ist keineswegs selbstverständlich. Denn bis 1990 war es Privatpersonen untersagt, ein Auto zu besitzen. Die meist schmalen Straßen vermochten die wenigen Fahrzeuge – nur einige Tausend in den 1980er-Jahren – problemlos aufzunehmen. 15 Jahre nach dem Ende des albanischen Kommunismus sind es weit über 200.000 Autos. Obwohl überall gebaut wird, sind verschiedene Abschnitte wichtiger Fernstraßen bis heute reine Schlaglochpisten oder noch immer so eng, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikommen. Insbesondere in den Bergen, die zwei Drittel des 28.748 Quadratkilometer umfassenden Landes bedecken, sind die Straßen oft nicht asphaltiert, der Esel bleibt als Transportmittel hoch im Kurs.

Kaum erschlossen sind auch einige der schönsten Badebuchten des Landes. Zum Beispiel jene beim Örtchen Ksamil unweit der Küstenstadt Saranda, ganz im Süden Albaniens, dort, wo eine nur gerade zwei Kilometer breite Meeresstraße die griechische Ferieninsel Korfu vom albanischen Festland trennt. Ein holpriger Feldweg führt an einem armseligen Stützpunkt der albanischen Armee vorbei bis hinunter an einen kleinen, traumhaften Sandstrand. 20 Liegestühle stehen am glasklaren Wasser, daneben eine einfache, aus Brettern gezimmerte Kneipe mit einer auf Pfählen ins Meer hinaus gebauten Terrasse.

Die beiden Brüder Tiku und Edi haben sich in dieser winzigen Bucht vor drei Jahren ihr kleines Paradies geschaffen, das sie während der Badesaison bis in den Herbst hinein mit einigen Touristen teilen. "Während des Kommunismus war hier alles militärisches Sperrgebiet, an Schwimmen oder Sonnenbaden war nicht zu denken. Dafür blieb die Natur unberührt", erklärt der braungebrannte Tiku, während im Hintergrund Ausflugsdampfer und Kreuzfahrtschiffe vorbeiziehen. Obwohl Ksamil sein Heimatdorf ist, lebt Tiku schon seit fünf Jahren im benachbarten Griechenland, wo er sich als Steinmetz sein Brot verdient. Bereits rund 600.000 Albaner taten es ihm gleich und sind bis heute nach Griechenland ausgewandert, weitere zirka 300.000 nach Italien, auf der Suche nach Arbeit und besseren Zukunftsperspektiven. In Albanien leben heute knapp 3,6 Millionen Menschen, etwa ein Viertel von ihnen unter der Armutsgrenze.

Blick auf die Stadt Tirana / Norbert Rütsche, n-ost

Ein unübersehbares Zeichen dafür, dass viel Geld von ausgewanderten Albanern ins Land fließt, sind die unzähligen neuen Hotels und Appartement-Hochhäuser in allen erdenklichen Formen und Farben, die sich entlang der Mittelmeer-Küste rund um die Hafenstädte Durres, Vlora und Saranda wild und scheinbar planlos ausgebreitet haben. Ein Großteil dieser Bauten wurde illegal errichtet. Denn bis heute dauert das Gezerre um die Verteilung des Bodens, der unter den Kommunisten vollständig dem Staat gehörte, an. Aber viele wollten nicht auf eine klare rechtliche Grundlage warten und bauten ohne Bewilligung. Dem Staat bleibt heute lediglich, im Nachhinein eine geregelte Legalisierung dieser Bauten zu erreichen. Doch der Streit darüber, wie und zu welchen Preisen dies geschehen soll, ist eines der dominierenden Themen in der albanischen Politik.

Im ganzen Chaos ist für Jonila Godole, eine 32jährige Universitätsdozentin, Journalistin und Buchautorin aus Tirana, aber eines klar: "Man ist dumm, wenn man sich an die Regeln hält. Diejenigen, die vor Jahren illegal bauten, fahren mit Sicherheit besser als die Geduldigen und Ehrlichen."Auf die Frage, welche Touristen denn in all den Gästebetten und Wohnungen übernachten sollten, zuckt auch Kneipenwirt Tiku nur mit den Schultern. Die albanischen Urlauber, die im Sommer zwar zahlreich an die Küste fahren, benötigen niemals so viele Zimmer. Und die Hoffnung, dass west- und mitteleuropäische Touristen in Heerscharen nach Albanien reisen würden, hat sich bis heute nicht erfüllt. Rund um Saranda und Ksamil ist zwar immer wieder Deutsch, Englisch, Tschechisch oder Ungarisch zu hören. Meist handelt es sich aber dabei um Ausflügler, die einen Tagestrip per Fähre und Reisebus von Korfu nach Südalbanien gebucht haben, um sich einmal für einige Stunden auf das unbekannte Land einzulassen. Und vor allem, um die Ruinen der antiken Stadt Butrint zu besuchen, die 1992 als erste Stätte Albaniens ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Doch nach dem Ausflug in die Antike geht's meist schnell wieder zurück auf die sichere griechische Insel. Albanische Hotelbetten belegen diese Touristen keine.

on Saranda führt eine gut ausgebaute Strasse durch weite Olivenhaine auf den Muzines-Pass und hinunter ins Drinos-Tal. Dort kauern entlang der Fernstrasse Dutzende von Einmann-Bunkern aus Beton wie Champignons in der Wiese. In der Logik des albanischen Diktators Enver Hoxha hätte sein Land jederzeit vom nur ein paar Steinwürfe entfernten Griechenland, aber auch von allen anderen Seiten angegriffen werden können. Aus den kleinen, mit Schießscharten versehenen Bunkern heraus hätte der Partisanenkampf gegen die Invasoren geführt werden sollen. Übers ganze Land wurden die Betonpilze verteilt, 600.000 bis 800.000 an der Zahl. Gebraucht wurden sie nie. Bis heute zeugen die Bunker oder deren Überreste auch an den unmöglichsten Stellen wie in Schulhöfen oder Gemüsegärten sowie entlang der Badestrände vom paranoiden Wahn des stalinistischen Diktators, der das Land von 1944 bis zu seinem Tod 1985 mit eiserner Faust regiert und von der übrigen Welt komplett isoliert hatte. Auf der Westseite des Flusses Drinos, hoch oben am Hang, klebt die weitläufige osmanische Altstadt von Gjirokastra.

Mit ihren teils festungsähnlichen Steinhäusern ist sie nicht nur das zweite Unesco-Weltkulturgut Albaniens, sondern auch der Ort, wo 1908 "Genosse Enver Hoxha" geboren wurde. Bis zum Ende des Kommunismus eine Art Pilgerstätte mit bis zu 60.000 Besuchern pro Jahr, wird sein Geburtshaus heute als ethnographisches Museum genutzt. Ein Hinweis auf den "geliebten und unvergesslichen Führer des albanischen Volkes", wie der Diktator in einer Museums-Broschüre aus dem Jahr 1988 genannt wurde, sucht der Besucher vergeblich. Auch in der Stadt ist keine Spur mehr von Hoxha zu entdecken. Die Bilder anderer Idole schmücken nun die Wände. In der Café-Bar Kashah ist es zum Beispiel ein vergilbtes Foto des Ballzauberers "Balak" aus dem Kalender der "Banka Popullore"

Doch nicht nur die albanische Wertschätzung für den deutschen Fußball, sondern auch für deutsche Technik und Motoren fällt in Gjirokastra – wie übrigens im ganzen Land – sofort auf: Mindestens jedes zweite Auto, das sich durch die schmale Gasse vor dem "Kashah" zwängt, ist ein Mercedes – von ganz neu bis uralt. Mercedes seien eben stabile, belastbare Autos, wie sie auf den Holperpisten Albaniens notwendig seien, lautet die gängige Erklärung für die hohe Mercedes-Dichte. Jonila Godole weist aber auch darauf hin, dass der Mercedes in Albanien ein wichtiges Statussymbol sei. Lieber werde dann mal beim Essen gespart. Dabei reichen die Löhne kaum zum Überleben: Ein Polizist verdient etwa 240 Euro pro Monat, ein Lehrer 180 Euro, die Renten betragen 30 bis 80 Euro. Rund 40 Prozent der Erwerbsfähigen sind ohne Arbeit. Bei diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass die Korruption blüht. An der Universität von Gjirokastra, so heißt es in der Stadt, stehen die Studierenden Schlange, um für das Bestehen der Prüfungen im Voraus zu zahlen.

Eines der größten Probleme, nicht nur für die Entwicklung des Tourismus, ist die verheerende Umweltverschmutzung. Die Abwässer vieler Küstenorte fließen ungereinigt ins Meer, veraltete Industrieanlagen schleudern tonnenweise Schadstoffe in die Luft, in stillgelegten Fabriken aus kommunistischer Zeit lagert krebserregender Giftmüll, bei maroden Erdöl-Bohrtürmen versickert Rohöl ins Grundwasser. Dazu kommt der immense Ausstoß von Autoabgasen, meist aus Dieselmotoren teils uralter Gebrauchtwagen. Die stetig wachsende Hauptstadt Tirana mit ihren geschätzten 600.000 bis 800.000 Einwohnern gilt bereits als eine der Städte mit der schlimmsten Luftverschmutzung weltweit. Über diesen Umstand können auch die spektakulären Stadtverschönerungs-Aktionen von Bürgermeister Edi Rama nicht hinwegtäuschen. Seitdem der 42jährige Künstler und ehemalige Basketballer im Jahr 2000 ins Amt gewählt wurde, ließ er unzählige schmucklose Häuser, zum Teil ganze Straßenzüge, in bunten Farben und auffälligen Mustern streichen und Grünflächen anlegen.

Jonila Godole freut sich zwar auch über die frischen Farben im Stadtbild, kritisiert das Vorgehen Ramas aber als "Fassadenpolitik": "Rama investiert nicht in nachhaltige Werte, sondern nur an der Oberfläche und für die TV-Kameras." Hinter den Fassaden gehe es den Leuten deswegen keineswegs besser. Etwas mehr Tiefgang wünscht sich die engagierte Journalistin aber auch von Europa, was den Umgang mit ihrem Land betrifft. "Wir brauchen weder schöne Worte, noch humanitäre Kleiderlieferungen noch Seminare von hochbezahlten Experten." Viel mehr sollte Europa Albanien ernst nehmen und sich besonders für albanische Studierende, Wissenschaftler und Kulturschaffende mehr öffnen. "Die vielen negativen Visa-Bescheide erwecken den Eindruck, Europa hätte etwas gegen uns." Doch mit dem im Juni unterzeichneten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU ist Albanien Europa schon einiges näher gekommen. An den meisten öffentlichen Gebäuden im ganzen Land weht denn auch bereits die EU-Flagge.


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