Moralisch angeschlagen, wirtschaftlich solide
Reformprogramm gegen FinanzkriseBudapest (n-ost) Nach der Wende gehörte Ungarn lange neben Polen und Tschechien zu den wirtschaftlichen Musterknaben in Mittelosteuropa. Staatsbetriebe wurden zügig privatisiert, gute Bedingungen für ausländische Investoren wurden geschaffen. Es floss viel Kapital ins Land, die Wirtschaft wuchs zeitweise doppelt so rasant wie bei manchem Nachbarn. Doch seit dem Jahr 2000 mehren sich die Probleme.Der Staatshaushalt wurde zur Melkkuh, rechte wie linke Regierungen verteilten fröhlich Gelder, die sie nicht hatten. Viktor Orban, immer noch Vorsitzender der größten Oppositionspartei Fidesz, entschied sich 2001 als Premier für eine rigorose Ausgabenpolitik, um die Wähler gütlich zu stimmen. Das gelang nicht, vielleicht, weil sein sozialistischer Konkurrent noch mehr Geschenke versprochen hatte. Die verteilte der neue Premier Peter Medgyessy 2002 dann auch und erhöhte etwa die Gehälter für Staatsdiener um satte 50 Prozent. Das Haushaltsdefizit verdoppelte sich damals auf über neun Prozent, Anleger verloren das Vertrauen und die Landeswährung Forint wurde mehrmals abgewertet. Aus dem Schlamassel herausDieses Jahr wird eine Neuverschuldung von über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwartet. Wirtschaftsexperten sehen Ungarn schon in eine Finanzkrise stürzen, sofern Gyurcsany nicht die Reißleine zieht. Seit er Medgyessy vor zwei Jahren auf halber Strecke als Premier abgelöste, hat Gyurcsany diesbezüglich nichts getan. Das sagt er auch in seiner berüchtigten Rede, in der er zugibt, die Wähler über die desolate Haushaltslage belogen zu haben.Entgegen seiner Wahlversprechen hat er nun ein Reformprogramm aufgelegt, das Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen vorsieht. Laut Programm wird die Mehrwertsteuer von 15 auf 20 Prozent angehoben, eine Solidaritätssteuer von vier Prozent für Personen mit hohen Einkommen wird eingeführt. Außerdem werden neuerdings Kapitalerträge mit 20 Prozent besteuert. Sparen will die Regierung, indem sie eine geplante Senkung der Sozialversicherungsbeiträge verschiebt und Subventionen für Medikamente, Gas und Strom abbaut. Außerdem sollen die Krankenkassenbeiträge angehoben und der Wohnungsbau weniger gefördert werden.Das wollen viele Bürger nicht mittragen, weshalb sie auf die Straße gehen. In Wirtschaftskreisen gelten diese Reformen als wichtige Chance für Ungarn. Sandor Richter, Wirtschaftsexperte für Ungarn am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, hält das Regierungsprogramm für notwendig, "um aus dem Schlamassel herauszukommen".Vier goldene JahreEs gehe nun darum, Geschenke zurückzugeben, welche die Regierungen in den letzten Jahren ungerechtfertigt verteilt hätten. Es müsse korrigiert werden, dass die Realeinkommen in den letzten Jahren um 30 Prozent gewachsen sind, das Bruttoinlandsprodukt aber nur um 18 Prozent. "Das Opfer wird sich lohnen", meinte Richter diese Woche vor Journalisten in Wien und verweist auf das Sparprogramm von 1995. Danach hätten die Ungarn "vier goldene Jahre erlebt". Für einen ähnlich positiven Effekt müsse Gyurcsany seine Reformen umsetzen können und Ungarn zwei Jahre lang den Gürtel enger schnallen, so Richter.Sollte Viktor Orban an die Macht kommen, wird er wohl kaum das Reformprogramm der linksliberalen Regierung fortführen. Dagegen wehren er und seine Anhänger sich im Parlament und auf der Straße. Richter befürchtet, Orban werde seine im Wahlkampf angekündigten Steuersenkungen wahr machen. Das könnte dem Wirtschaftsexperten zufolge eine schwere Finanzkrise auslösen - mit dem Risiko eines Staatsbankrotts. Aber Premier Gyurcsany will ausdrücklich im Amt bleiben. Seine Koalition steht hinter ihm, die Krawalle haben abgenommen und die Demonstrationen sind nicht größer geworden. Moralisch ist er angeschlagen, wirtschaftspolitisch wird er gelobt.
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