Die Wut sitzt tief
Ungarn erlebt größte Protestwelle seit der Wende / Konservative wollen RegierungswechselBudapest (n-ost) Die Wut sitzt tief. Zehntausende Ungarn gehen im ganzen Land auf die Straße und fordern den Rücktritt des sozialistischen Premiers Ferenc Gyurcsany. Einige Hundert greifen sogar zu Gewalt und lieferten sich mehrere Nächte Straßenschlachten mit der Polizei. Warum brechen die Proteste gerade jetzt aus und weshalb in dieser Heftigkeit?Auslöser der Proteste ist ohne Zweifel die letzten Sonntag veröffentlichte Rede des Premiers, die er im Mai vor Parteikollegen gehalten hat. Darin gibt er unumwunden zu, die Wähler systematisch belogen zu haben über die wirtschaftliche Lage des Landes. Die ist so schlecht, dass die versprochenen Wahlgeschenke nicht eingelöst werden können und es sogar einer rigorosen Sparpolitik bedarf, die jeder Bürger zu spüren bekommen wird.Drastische SparmaßnahmenGyurcsanys linksliberale Regierungskoalition hat bereits ein Sparprogramm aufgelegt, und die geplanten Reformen werden die Menschen teuer zu stehen kommen. Vorgesehen sind unter anderem Studiengebühren, Arztgebühren, kräftige Steuererhöhungen, Entlassungen und höhere Energiepreise. Das Reformpaket ist bitter nötig, um die Nettoneuverschuldung einzudämmen. Sie könnte dieses Jahr auf über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, gewünscht hatte man sich eine Neuverschuldung von vier Prozent. Die für 2008 geplante Euroeinführung ist jedenfalls auf unbestimmte Zeit verschoben.So angebracht die Sparmaßnahmen auch sein mögen, um den Staatshaushalt zu sanieren - die Bürger sehen es als Griff in ihre Tasche. Das ist ein weiterer Grund für ihren Zorn auf die Regierung. „Ich bin wegen der drastischen Sparmaßnahmen hier“, begründete eine demonstrierende Studentin vor dem Parlament ihren Protest. Die Reformen sind bei vielen unbeliebt, sogar in Gyurcsanys Sozialistischer Partei MSZP, wo vor allem Studiengebühren und Mehrwertsteuer-Erhöhung Unmut erzeugen. Doch die Demonstranten kommen aus dem Oppositionslager, ihre politischen Ansichten und Forderungen reichen von der Mitte bis zum extremen rechten Rand. Sie eint ihre Abneigung gegen das linke Lager und der Frust, die Parlamentswahl im April so knapp verloren zu haben.Tiefe SpaltungAbneigung und Frust nutzt die größte Oppositionspartei Fidesz, um Stimmung gegen die Regierung zu machen. Sie behauptet schon seit Monaten, dass die Regierung Gyurcsánys illegitim sei, weil sie die Sparmaßnahmen verschwiegen hatte und durch Lügen an die Macht gekommen sei. Die Mitglieder des Fidesz reden vom Recht auf Widerstand, womit sie zweifellos den rechten Rand der Unzufriedenen ansprechen. Viele der Randalierer kommen aus dem rechtsextremen Milieu. Einer aktuellen Umfrage zufolge haben die Oppositionsführer zum Ausbruch der Gewalt beigetragen. Die große Mehrheit der Demonstrierenden ist allerdings friedlich. Der gemeinsame Feind steht links, regieren soll das konservative Lager: Diese Überzeugung ist ein weiterer Antrieb für die Menschen, auf die Straße zu gehen.Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten. Die Konservativen halten die Linken für Kommunisten, die mit ihrer Vergangenheit nicht gebrochen haben. Die Linken hingegen fürchten die Konservativen, weil sie oft ins Extreme abrutschen und radikale Strömungen wenn nicht fördern, so doch anregen. Auch in den letzten Tagen spielte der Fidesz mit dem Feuer und hielt lange fest an seinem Plan einer politischen Großkundgebung, zu der eine halbe Million Menschen erwartet wurden. Angesichts der heiklen Sicherheitslage rieten alle anderen politischen Kräfte davon ab, vom Präsidenten über die Regierungskoalition bis hin zur kleinen konservativen Oppositionspartei Demokratisches Bürgerforum (MDF). Am Donnerstag gab der Vorsitzende des Fidesz, Viktor Orban, nach und sagte die für Samstag geplante Veranstaltung ab. Der Geheimdienst hatte Hinweise auf geplante Bombenanschläge. Die unsichere Lage erzeugt Einigkeit, die in Ungarn ungewöhnlich ist. Niemand weiß, was noch passieren kann bis zu den Kommunalwahlen am 1. Oktober.Wohldosierter StoßDie Kommunalwahlen sind der letzte größere Punkt, der die Heftigkeit der aktuellen Proteste erklären mag. Wahlkampf in Ungarn wird immer sehr wörtlich genommen, und Politiker greifen in solchen Zeiten mit Verve die Gegner an. Rhetorisch zwar, doch dadurch ist die Stimmung im Land meist sehr gereizt. Zumal diese Kommunalwahlen von Orban zu einer Art Volksentscheid über die Regierung stilisiert wurden. Schätzungen zufolge ist der Zuspruch für die Sozialisten seit Beginn der Woche rapide gesunken. Vielleicht war die Veröffentlichung der Rede Gyurcsanys ein wohldosierter Stoß im Wahlkampf. Bisher weiß man nicht, wer dem Radiosender die Aufnahme zugespielt hat - ganze vier Monate, nachdem sie gemacht wurde.
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