Offene Worte lösen Proteste und Unruhen aus
Premier gibt zu, Wähler belogen zu haben / Konservative schüren Konflikt
Budapest (n-ost) Die offenen Worte des Premierminister Ferenc Gyurcsany lösten eine ungewöhnlich starke Protestwelle in Ungarn aus. „Offensichtlich haben wir in den letzten anderthalb bis zwei Jahren nur gelogen“, sagte Premier Gyurcsany über die Darstellung der wirtschaftlichen Lage im Land. „Es war vollkommen klar, dass das, was wir gesagt haben, nicht wahr ist.“ Die Rede stammt von einer parteiinternen Sitzung der regierenden Sozialisten (MSZP) vom 26. Mai des Jahres, also nur wenige Wochen nach der Parlamentswahl, welche die sozial-liberale Regierung im Amt bestätigt hatte. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk brachte die Rede am vergangenen Sonntag.Neben den falschen Wahlversprechen 2002 und 2006 bemängelt Gyurcsany darin die bisherige Arbeit der Regierungskoalition: „Und dazwischen haben wir vier Jahre lang nichts gemacht. Nichts.“ Er sehe keine Aktion der Regierung, auf die diese stolz sein könne. Und weiter heißt es: „Wenn wir dem Land erzählen müssen, was wir getan haben während der letzten vier Jahre, was sagen wir dann?“ Die Fraktionsvorsitzende der Sozialisten, Ildiko Lendvai, sagte jetzt, der Premier hätte eine wichtige Debatte darüber angestoßen, dass grundlegende Reformen angegangen werden müssten. Daher „ist es nicht zu bedauern, dass diese Aufnahme an die Öffentlichkeit gelangt ist“, meinte Lendvai.Es bleibt die Frage, weshalb diese Aufnahme erst jetzt an die Öffentlichkeit kam, so kurz vor den Kommunalwahlen Anfang Oktober. Der Leiter der Nachrichtenredaktion des Rundfunks, Andras Szankoczy, schweigt über die Herkunft des Tonbands. Rechte Kreise sprechen seit den Wahlen im April immer wieder von einer konservativen Revolution. Dabei wird oft auf den Aufstand 1956 gegen das kommunistische Regime angepielt, was in vielen rechten Internetforen nachzulesen ist. Auch die rechts-konservative Oppositions-Partei Fidesz machte immer wieder Andeutungen in diese Richtung. Sie haben sich bisher nicht damit abgefunden, eine zweite Legislaturperiode in der Opposition sitzen zu müssen. Manche Beobachter meinen, dass dieses Gerede von einer Revolution den Randalierern als letzter Grund gedient habe, gewalttätig zu werden – weil sie der Gesellschaft damit einen Dienst erweisen würden. Doch der Gewaltausbruch stößt in Ungarn mehrheitlich auf Ablehnung, auch in regierungskritischen Kreisen.Bei den Ausschreitungen sind über 150 Menschen verletzt worden, davon 102 Polizisten, wie deren Sprecher mitteilte. Die Polizei war offensichtlich nicht auf einen solchen Gewaltausbruch vorbereitet und hatte zu wenige Einsatzkräfte vor Ort, die zudem mangelhaft ausgerüstet waren. Insbesondere die Schutzkleidung war lückenhaft, was den Randalierern ermöglichte, die Polizeilinie zu durchbrechen. Sie schlugen etwa mit Eisenstangen gezielt auf die Füße und Beine der Polizisten, die dort keine besondere Panzerung trugen, wie sie zum Beispiel bei deutschen Polizisten für solche Einsätze üblich ist. Als sich die Polizei zurückziehen musste, hatten die Randalierer freie Hand. Sie drangen in das Fernseh-Gebäude ein, steckten davor Autos in Brand. Einige brennende Wagen wurden gegen die Fassade des Gebäudes geschoben und im Haus selbst wurde auch gezündelt, es brach jedoch kein größeres Feuer aus. Das Programm des Senders wurde unterbrochen. Draußen bemühten sich derweil einige erschreckte Krawallmacher, die offensichtlich weniger radikal waren, mit Feuerlöschern die Flammen einzudämmen. In den frühen Morgenstunden brachten Feuerwehr und Polizei die Situation unter Kontrolle. Der Fernsehsender ging bald danach wieder auf Sendung. Am Mittwoch blieb es in der Stadt ruhig. Vor dem Parlament demonstrierten etwa 500 Menschen friedlich für den Rücktritt des Premiers Gyurcsany. Der will erstmal im Amt bleiben.Für den kommenden Samstag plant der Fidesz eine Massenkundgebung auf dem Heldenplatz, wo seine Mitglieder wohl jegliche Verantwortung für das Geschehen von sich schieben werden. Doch sie stehen in der Kritik für ihre Zweischneidigkeit und ihren rhetorischen Radikalismus. *** ENDE*** ---------------------------------------------------------------------------
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