Türkei

Roman vor Gericht

„Der Bastard von Istanbul“, der im März erschienene, fünfte Roman der jungen Autorin Elif Shafak, war ein großer Erfolg. Mehr als 60.000 Mal ging er in der Türkei über den Ladentisch, Veröffentlichungen in englischer und deutscher Sprache stehen bevor. Nun muss die Autorin vor Gericht – wegen Aussagen ihrer Romanfiguren. Im Buch ist von „türkischen Schlächtern“ und dem „Genozid“ an der armenischen Bevölkerung im Jahr 1915 die Rede – Äußerungen, die in der Türkei strafbar sind, da es in der offiziellen Geschichtsschreibung nie einen Völkermord gegeben hat. „Als ich das Buch schrieb, habe ich nicht an die Konsequenzen gedacht“, erklärt Shafak in einem Istanbuler Café. „Die Geschichte ist das, was zählt.“

Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches stellt die öffentliche Herabwürdigung des Türkentums, der Republik oder staatlicher Institutionen unter Strafe und ahndet dies mit bis zu drei Jahren Gefängnis. Inhaltlich ist der Artikel äußerst vage und offen für Interpretationen: Was „Herabwürdigung“ von „Kritik“ unterscheidet, bleibt ungeklärt. Seine Entstehungsgeschichte mutet absurd an: Der Artikel ist Teil eines Gesetzespaketes, das am 1. Juni 2005 in Kraft trat – zur Angleichung türkischer Gesetze an EU-Normen.

Elif Shafak ist nicht die erste, die vor Gericht zitiert wird. Bislang waren mehr als 60 Schriftsteller, Verleger, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten mit ähnlichen Klagen konfrontiert – Orhan Pamuk war das prominenteste Beispiel.

In Shafaks Fall stehen zum ersten Mal literarische Äußerungen auf der Anklagebank. Dies stelle eine äußerst beunruhigende Entwicklung dar, so die Autorin. „Wenn der Artikel 301 weiterhin in diese Richtung interpretiert wird, kann niemand mehr in diesem Land ein Buch schreiben oder Filme machen.“

Der Kläger ist – nicht zum ersten Mal – der nationalistische Anwalt Kemal Kerincsiz, der mittels Aufsehen erregender Prozesse Stimmung gegen die Westannäherung des Landes macht. Kerincsiz ist Vorsitzender einer Juristenvereinigung und eine Symbolfigur der Ultranationalisten. Der EU-Beitritt würde die nationalen Interessen der Türkei gefährden, so Kerincsizs Position. Ginge es nach ihm, sollten die Türken nur „unter den eigenen Leuten“ nach politischen Bündnissen suchen – im Osten, in Zentralasien. „Viele Dinge haben sich in den letzten fünf, zehn Jahren positiv verändert. Das stört einige Leute, insbesondere die Nationalisten“, hält Shafak dagegen. „Der EU-Annäherungsprozess ist sehr wichtig – und der Anwalt Kemal Kerincsiz macht keinen Hehl daraus, dass er und seine Gruppe gegen einen EU-Beitritt der Türkei sind.“

Seit Juni dieses Jahres gibt es die erste höchstgerichtlich bestätigte Verurteilung nach Artikel 301. Hrant Dink, Herausgeber des armenischen Magazins „Agos“, hat für journalistische Äußerungen eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten bekommen. Wenn er innerhalb der nächsten fünf Jahre noch einmal einen ähnlichen Verstoß begeht, dann muss er sie auch absitzen.

Trotz anhaltender Kritik von EU und Menschenrechtsorganisationen hat die türkische Regierung bislang eine klare Stellungnahme verweigert. Man wolle erst die Anwendung durch die Gerichte abwarten, bevor eine Abänderung des Artikels diskutiert werden könne, so der Tenor. Erweiterungskommissar Olli Rehn schickte nach Dinks Verurteilung einen deutlichen Appell nach Ankara, in dem er daran erinnerte, „dass Meinungsfreiheit ein Schlüsselprinzip der Kopenhagener Kriterien ist und einen Kernpunkt der Demokratie darstellt“. Rehn wies mit dem Zeigefinger auf den für Ende Oktober erwarteten Fortschrittsbericht hin, in dem Kritik am Artikel 301 nicht fehlen wird.

In Elif Shafak haben antiwestliche Meinungsmacher eine passende Hassfigur gefunden. 1971 als Kind einer türkischen Diplomatin in Strassburg geboren, kam sie erst als junge Frau nach Istanbul. Nie habe sie sich niederlassen wollen, sagt Shafak. In den letzten Jahren pendelte sie zwischen Istanbul und Tucson, wo sie an der University of Arizona am Institut für Near Eastern Studies unterrichtete. Sie beschäftigt sich mit dem Verdrängten, mit den Leerstellen von Gender, Gedächtnis, den kulturellen und religiösen Rändern des osmanischen Reiches. Ihre letzten beiden Bücher verfasste Shafak in englischer Sprache.

„Ich fühle mich Istanbul sehr verbunden, aber zeitweise muss ich weg“, so die Schriftstellerin. „Mich verbindet eine Hass-Liebe mit dieser Stadt.“ In nächster Zeit wird Shafak jedoch in Istanbul sein. Und das nicht nur auf Grund des Prozesses. Vergangene Woche hat sie eine Tochter zur Welt gebracht.


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