Mit dem Zug durch Deutschland / Interview mit dem ukrainischen Schriftsteller Jurij Andruchowytsch
Ostpol: Einst fuhr der „Zug 76“ von Danzig aus durch die Westukraine nach Bulgarien ans Schwarze Meer. Später haben Sie nach dem Zug ein Internet-Portal für junge ukrainische Literatur benannt. Jetzt bringen Sie den realen Zug und die Literatur zusammen und fahren durch Deutschland. Mit welchem Ziel?
Jurij Andruchowytsch hofft, mit seiner kritischen Rede etwas bewegt zu haben / privat
Andruchowytsch: Ich will an dieser Stelle große Worte meiden wie etwa: Deutschland soll möglichst viel über die Ukraine und ihre Kultur erfahren. Ich sage es einfach so: Das Publikum soll sehen, dass die Ukraine viele talentierte Menschen hat, und das alleine wäre uns schon wichtig. Jeder Autor wird natürlich sich selbst präsentieren, aber summa summarum wird sich ein Gesamtbild der neuen ukrainischen Literatur ergeben.
Sie selbst haben im Reisegepäck Ihren Roman „Moskowiada“, der Russland und sein Verhältnis zu den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zum Thema hat. Der Roman erschien bereits 1993, wurde aber erst jetzt, da sie international bekannt sind, ins Deutsche übersetzt. Ist das Buch noch aktuell?
Andruchowytsch: Es ist falsch, wenn man über Russland von heute spricht ohne die Berücksichtigung dessen, was sich in dort in den frühen 90er ereignete. In den Jahren 1989 bis 1991 lebte ich in Moskau, zu einer gesellschaftlich und politisch sehr interessanten und intensiven Zeit. Das war der Höhepunkt der Perestrojka, und Moskau war zu jener Zeit das Zentrum all dieser Wandlungsprozesse – nicht nur, weil dort der große Reformator Gorbatschow saß. Selbstverständlich ist Moskau damals eine Metropole gewesen, eine Aufeinanderschichtung von verschiedenen Kulturen, aber auch die Hauptstadt eines Imperiums, dessen Ende ich herbeigesehnt habe. Mit solchen gemischten Gefühlen, in dieser Hassliebe, lebte ich ganze zwei Jahre.
Geschrieben haben Sie aber Moskowiada in Deutschland?
Andruchowytsch: Ein halbes Jahr nach meinem Moskau-Aufenthalt erhielt ich in Deutschland ein Stipendium und ging für drei Monate nach Bayern, an den Starnberger See. Als ich an dem Roman schrieb, lebte ich zwischen zwei verschiedenen Welten: dem glänzenden bayerischen Wohlstand, den wunderschönen Landschaften einerseits und andererseits einem halb zusammengebrochenen Moskau. Für den künstlerischen Effekt war diese Zwiespalt wohl sehr wichtig.
Wie denken Sie heute an Moskau zurück?
Andruchowytsch: Ich war damals politisch gesehen der Feind dieses Systems und dieses Imperiums, und mein Aufenthalt in dessen Epizentrum war für mich ein sehr komplizierter. Ich denke jetzt an all jene endlosen politischen Diskussionen mit meinen russischen Kollegen, die im Streit um das weitere Schicksal der Sowjetunion niemals nachgeben wollten. Dennoch denke ich, dass jene zwei Jahre, die ich dort verbrachte, zu den glücklichsten in meinem Leben zählen. Ich hatte das Glück, viele interessante, talentierte Menschen konzentriert an einem Ort zu treffen.
Der Hauptheld Ihres Romans ist ein Westukrainer mit dem Namen Otto von F., der in Moskau landet. Ist das autobiographisch?
Andruchowytsch: Es ist kein rein autobiographischer Roman, das Verhältnis zwischen mir und dem Nicht-mir in diesem Buch liegt etwa bei 50 zu 50.
Manche Historiker vergleichen den Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Untergang des alten Rom. Sehen Sie selbst auch Parallelen?
Andruchowytsch: Rom und Moskau waren jeweils durch einen allgemeinen Verfall gekennzeichnet. Und das betrifft nicht nur die heruntergekommenen Straßen und Gebäude und deren Beleuchtung, sondern auch die Menschen und ihren inneren Zustand. Andererseits gab es im Moskau der zwei letzten Jahre der Sowjetunion anders als in Rom viele demokratische Bewegungen und Organisationen, die die Gesellschaft verändern wollten. Damals habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Massenversammlungen persönlich erlebt. 300 000 bis 500 000 Menschen, die auf die Straßen gingen. Andererseits habe ich gesehen, wie man die Kontrolle über der Situation mit Hilfe von Panzern zu behalten suchte. Damals gab es in Moskau anders als heute richtige Bürger, die zu jeder Minute bereit waren, ihre neu entstehende Demokratie zu verteidigen.
Und dann hat Moskau diese Chance anscheinend verspielt…
Andruchowytsch: Das stimmt. Damals ahnte wohl keiner, wie sich alles ändern würde. Wer hätte gedacht, dass der Austausch eines alten und kranken Präsidenten durch einen jungen und starken solch eine Umkehr mit sich bringen würde? Und eine der strategischen Vorgehensweisen des Kreml ist heute das Schaffen einer negativen Bewertung der ganzen 90er Jahre. Man nennt sie in Russland nicht von ungefähr „verfluchte 90er“.
In einer Ihrer letzten Erzählungen, erschienen im Erzählband „Sarmatische Landschaften“, behaupten Sie, die Grenze Europas soll im ostukrainischen Luhansk enden und nicht etwa im russischen Wladiwostok. Warum?
Andruchowytsch: Die orange-farbene Revolution in der Ukraine brachte uns die Überzeugung, dass unsere Gesellschaft sich für die europäischen Werte entschieden hat und wegen der europäischen Werte sich bei der Revolution bewusst gewaltlos und gut organisiert gezeigt hat. An unserer nordöstlichen Grenze existierte aber ein Land, das eigentlich mental, geographisch und geschichtlich uns am nächsten stehen müsste. Doch ausgerechnet von diesem Land, Russland, wurden die Ukrainer am wenigsten verstanden. Die russischen Massenmedien haben in ihrer Berichterstattung über die Ukraine ein Desinformationskomplott geschmiedet.
Kurzporträt:
Juri Andruchowytsch wurde am 13. März 1960 im westukrainischen Städtchen
Iwano-Frankiwsk (bis 1962 Stanyslawiw) geboren. Andruchowytsch studierte in
Lemberg Journalismus und veröffentlichte Anfang der 80er Jahre erste Gedichte.
Bekannt wurde er in der Ukraine als Mitglied der literarischen Gruppe Bu-Ba-Bu.
1985 erschien sein erster Gedichtband „Himmel und Plätze“. Von 1989 bis 1991 hielt sich Andruchowytsch in Moskau auf und belegte dort am Maxim-Gorki-Institut Kurse für Fortgeschrittene Literatur. Bis heute hat Andruchowytsch vier Romane und zahlreiche Gedichtbände vorgelegt. In der Ukraine zählt er als stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbandes als eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen des Landes. 2001 erhielt er den Herder-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung.
Bekannt wurde er in Deutschland einem größeren Publikum aber erst 2003 mit dem Essayband „Das letzte Territorium“, der bei Suhrkamp erschien. International erfolgreich war 2004 der Essayband „Mein Europa“, an dem auch der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk beteiligt war. 2006 erhielt Andruchowytsch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2005 bis 2006 war er ein Jahr Gast des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.
Derzeit hat es aber den Anschein, als würde die Ukraine ähnlich wie das Moskau des Jahres 1991 seine demokratischen Chancen verspielen. Der Gegner der orange-farbenen Revolution ist heute Ministerpräsident…
Andruchowytsch: Das stimmt. Eine Zeit ist vergangen, und unsere Gesellschaft ist wieder im selben Misthaufen gelandet. Die Situation heute und damals ist jedoch ähnlich und unterschiedlich zugleich. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass wir wieder die Chancen vertan haben und unsere Revolution nicht vollendet blieb. Unsere Gesellschaft hat sich zwar verändert, doch die Politiker wohl nicht. Bis zum 3. August hatte ich Präsidenten Juschtschenko vertraut. Heute hat Juschtschenko mich völlig enttäuscht und er gefällt mir genauso wenig wie all die anderen.
Hat die zögerliche Haltung Europas zum Erfolg des Revolutionsgegners Janukowitsch beigetragen?
Andruchowytsch: Ich bin davon fest überzeugt! Natürlich möchte ich nicht die ganze Schuld auf Europa schieben. Aber die Europäer wussten einfach nicht, was sie mit der Ukraine nach deren Revolution zu machen hatten. Dass Janukowitschs Partei bei den Parlamentswahlen so viele Stimmen gesammelt hat, ist in einem gewissen Ausmaß das Resultat dieser Politik der EU gegenüber der Ukraine. Die Europäer haben der orange-farbenen Mannschaft nicht geholfen. Die Gegner haben gerade auf diese Reaktion Europas gewartet, und es dem ganzen Land dann verkündet: Es gibt für uns kein Europa, alle Türen bleiben geschlossen, die Visa werden noch teuerer, die Ukraine ist für Europa kein würdiges Mitglied.
Bei der Leipziger Buchmesse in diesem Jahr, als Ihnen der Preis für die Völkerverständigung verliehen wurde, haben sie vom Publikum nach Ihrer Suada über das Im-Stich-Lassen der Ukraine durch die EU stehenden Applaus bekommen. Hat es etwas gebracht?
Andruchowytsch: Ich weiß nicht, ob meine Rede tatsächlich gar nichts bewirkt hat. Jedenfalls gab es nach dieser Rede in Leipzig eine große Resonanz. Erst vor kurzem habe ich eine Mappe bekommen mit den Publikationen in der Presse auf meine Rede – so dick wie ein Buch. Ich glaube, das bedeutet schon einen gewissen Effekt und eine gewisse Veränderung in den Köpfen der Menschen.
Was bedeutete für die Ukraine eine Einladung nach Europa?
Andruchowytsch: Ich träume nicht von einer Mitgliedschaft in der EU wie von einem Paradies auf Erden. Die EU ist für mich kein ideales Modell für das Zusammenleben der Länder in Europa. Viel wichtiger wäre für mich die Präsenz meines Landes in einem Staatenbund unter dem Oberbegriff ‚Geeintes Europa’. Die Einladung der Ukraine in die EU, diese Geste selbst, wäre für mich viel wichtiger als diese Mitgliedschaft selbst. Denken wir an die westlichen Nachbarn der Ukraine. Es sind alles die Länder, deren Gesellschaften sich nur dank einer konkreten Perspektive einer EU-Mitgliedschaft für die Veränderungen stark machen konnten. Sagt man nur: „Verändert Euch, und wir schauen zuerst mal zu, wozu ihr in der Lage seid!“, so wird sich keiner richtig zu Veränderungen bewogen fühlen.
In Westeuropa werfen Ihnen Kritiker vor, es sei einfach, für die Ukraine eine europäische Perspektive zu fordern und dabei selbst irgendwo im Westen von Stipendien zu leben. Glauben Sie überhaupt, dass ein Schriftsteller an dem Schicksal seines Landes etwas verändern kann?
Andruchowytsch: Eine ungarische Journalistin sagte einmal: „Wenn man nicht weiß, was man sagen muss, sollte man das sagen, was man denkt.“ Und nach diesem Grundsatz richte ich mich auch. Ich habe immer gesagt, was ich dachte. In welchem Ausmaß das verschiedene Zweifel auslöst, weiß ich nicht. In meinem nächsten Text versuche ich etwas verständlicher zu werden und vielleicht noch mehr Kontroversen auslösen. Das sehe ich als einen normalen Prozess, einen Dialog mit den Lesern.
Wer ist für Sie Ihr wichtigster Leser? Wessen Meinung ist für Sie besonders wertvoll?
Andruchowytsch: Es gibt vier oder fünf Menschen, die meine neuen Werke als erste zu lesen bekommen. Es sind jedoch niemals dieselben Menschen. Bei verschiedenen Lebensabschnitten gibt es für mich verschiedene wichtige Personen. Bei meinem letzten Roman, „Zwölf Ringe“ war meine Tochter Sofia unter meinen ersten Lesern. Auch meine Frau gehört immer zu diesem Kreis, sonst wechseln sich die Personen von Zeit zu Zeit ab.
Ihre 22-jährige Tochter Sofia Andruchowytsch tritt in ihre Fußstapfen. Auch im „Zug76“ ist sie als junge ukrainische Literatin mit dabei. Hat Sofia Ihr Talent geerbt?
Andruchowytsch: Natürlich bin ich auf sie stolz, und es ist nicht mein Talent, sondern nur ihr eigenes. Wir haben zusammen sehr viel Zeit verbracht, und Sofia könnte von mir schon etwas mitbekommen haben. Dennoch hat sie ihren eigenen Stil und ihre eigene Sicht der Welt. Als Schriftstellerin ist sie nicht nur nicht mir ähnlich, ihre Werke sind überhaupt eigenartig und lassen sich mit niemandes Werken vergleichen.