Roma-Leben im Comic-Format
Keva steht mit ihrer Freundin plaudernd an einer Straßenbahnhaltestelle. Eine Tram poltert über das Kopfsteinpflaster. Die beiden dunkelhäutigen Frauen steigen ein. Plötzlich ruft eine korpulente Blondine: „Das Mädchen da hinten sieht aus wie eine Hure.“ Da ruckelt die Bahn, und Keva verliert das Gleichgewicht. Sie tritt der Blonden auf den Fuß entschuldigt sich noch mit einem knappen „Sorry“. Als Antwort stampft die Blonde Keva auf die Zehen. Die Frauen fauchen, die Blonde verlässt die Tram – und spuckt Keva zum Abschied ins Gesicht.
Das Leben als Buch
Nicht groß und muskulös wie klassische Comic-Heroen, sondern zierlich und unscheinbar ist Keva. Sie ist eine der drei Antihelden aus der jüngst in Prag erschienenen Comic-Trilogie „Roma-Geschichten“ („O pribjehi“). Die Szenen wie jene aus der Straßenbahn illustrieren. Es sind authentische Erzählungen, benannt nach ihren jeweiligen Protagonisten Keva (21), Albina (40) und Ferko (60).
„Ich war neugierig, wie mein Leben als Buch aussehen würde“, sagt Keva und lächelt keck, während sie an ihrem Kaffee nippt. Die 21-Jährige sitzt in einem Biergarten, nur wenige Schritte vom Prager Altstadttrubel entfernt. Das Genre „Comic“ hätte ihr nicht viel gesagt, als die studierte Roma-Wissenschaftlerin Masa Borkovcova und die Sozialanthropologin Marketa Hajska ihr vorschlugen, eine Bildergeschichte über sie zu entwickeln. Die drei Frauen kennen sich schon lange: Die heute 33-jährige Masa Borkovcova traf Keva bereits vor vielen Jahren, als sie Romakinder in Ferienlagern betreute. Co-Autorin Marketa Hajska hat wissenschaftliche Studien zu Roma in der Ostslowakei begleitet und als Studentin Roma-Kindern Nachhilfeunterricht gegeben. So kam ihr Kontakt zu Kevas Familie zustande.
Mit Geld aus dem europäischen Kulturfonds und mit Hilfe des befreundeten Zeichners Vojtech Masek wollten die beiden Pragerinnen eine Comic-Trilogie auf Dokumentar-Basis schaffen. In Tschechien ist diese Erzählart noch neu. Marketa Hajska erklärt den Vorteil: „Comics geben nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch Bilder einen Einblick in die Atmosphäre, in der sich die einzelnen Episoden abspielen. In unseren Büchern kann man erfahren, wie Roma-Dörfer aussehen oder welche Grimassen die Protagonisten schneiden.“ Mit Keva, Albina und Ferko haben die Autoren Persönlichkeiten gewählt, die unterschiedlichen sozialen Schichten sowie verschiedenen Gruppen der Roma-Minderheit in Tschechien und der Slowakei entstammen.
Die Comics sollen Verständnis schaffen
„In einer Großstadt wie Prag ist eine Versöhnung zwischen Tschechen und Roma möglich“, glaubt Autorin Marketa Hajska. Vor allem gegenseitiger Respekt und Toleranz seien dazu nötig. Masa Borkovcova ergänzt: „Wir müssen anfangen, von Roma als Individuen und nicht als Ethnie zu reden.“ Die Comic-Trilogie soll dazu beitragen, ein Stück Verständnis zu schaffen und den Tschechen einen Einblick in das weitgehend fremde Roma-Leben zu gewähren. Das Comic soll vor allem junge Menschen ansprechen, die ein Sachbuch über Roma sonst nicht anrühren würden. Die Medien in Tschechien haben das Buch mit Begeisterung aufgenommen.
Die Alltagsbetrachtung aus Sicht der heute 21-jährigen Keva kann sich mit den Geschichten großer Comic-Superhelden messen, so spannend ist sie allemal: Basierend auf Fotografien aus ihrer Kindheit zeigt der Bilderbogen in loser Reihenfolge – mit Rückblicken und Träumen gespickt – unterschiedlichste Situationen aus Kevas Leben: Kinderheim, Schuldiskriminierung, Umzüge, Prügeleien, Beschimpfungen, Kriminalität und Liebe. Die Frage, ob die junge Frau über die Umstände siegen wird, bleibt offen. Dabei geht es nicht um eine gradlinige Geschichte – die Leser sollen vielmehr am Leben der Protagonisten teilhaben und etwas über ihre Familien, Ängste und Sehnsüchte erfahren.
Von EU im Stich gelassen
Die Roma sind mit insgesamt zehn Millionen Menschen die größte Minderheit in der EU – trotzdem gelingt die Integration nur selten. Seit Wochen macht Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy Schlagzeilen mit der Räumung illegaler Roma-Siedlungen in Frankreich und der Ausweisung von Roma nach Rumänien und Bulgarien. In Rumänien leben bereits zwei Millionen Roma, die Regierung kämpft mit wirtschaftlichen Problemen, die jüngsten Abschiebungen steigern die Last. Schon vor einem Jahr hat die EU-Agentur für Grundrechte (FRA) auf die Diskriminierung der Roma in Osteuropa aufmerksam gemacht. Trotzdem wurden zum EU-Einwanderungsgipfel am 6. September nach Paris nur westliche Mitgliedsstaaten eingeladen. Scheinbar sollen die Osteuropäer selbst dafür sorgen, dass sich ihre Mehr- und Minderheiten versöhnen.
Kein Anspruch auf Sozialleistungen
Wohin das führt, kann man in Tschechien sehen. Dort wurde Keva am 6. September 1989 geboren – zwei Monate zu früh. Als die Eltern sie am 17. November nach Hause holen, beginnt in Prag die Samtene Revolution. Viele Roma werden zu ihren Opfern: „Unzählige Roma waren während des Sozialismus als Hilfsarbeiter tätig – und sind nach 1990 als erste entlassen worden“, erinnert sich Masa Borkovcova. Auch die Nationalitätenfrage wurde nach der Teilung der Tschechoslowakei zum Problem. Viele slowakische Roma hatten in Tschechien ohne tschechische Staatsangehörigkeit keinen Anspruch auf Sozialleistungen oder Obdach.
Eine Wohnung hatten Keva, die neun Geschwister und ihre Eltern – die als Putzfrau und Sicherheitswachmann arbeiten – immer. Heute lebt die Familie mit den jüngsten fünf Kindern in einer Neubausiedlung am Rande Prags. Am Wochenende kommen dort alle zusammen. Dann wird über Kevas Hochzeit gesprochen oder der gehbehinderte Sohn der Schwester umsorgt.
Leben in der Parallelgesellschaft
Das Leben der Roma findet meist in einer Parallelgesellschaft statt. Wo es Überschneidungen mit den Tschechen gibt, kommt es häufig zu Konflikten. Tief sitzen die anerzogenen Vorurteile: „Wenn du nicht lieb bist, holen dich die Zigeuner“, ängstigen viele tschechische Eltern ihre Kinder, und Faulheit ist für die meisten Tschechen der typischste Charakterzug der Roma. Am erschreckendsten aber ist, dass sich der Rassismus quer durch die Gesellschaft zieht: Egal ob Bauarbeiter oder Hochschullehrer, die Romafeindlichkeit verbindet viele Tschechen.
Als Kevas Mutter vermutet, schwanger zu sein, sagt die Ärztin: „Schon wieder!“ Eine Untersuchung gibt es nicht. Auch als zehn Monate später der Bauch immer dicker wird, aber noch kein Baby auf die Welt drängt, unternimmt sie nichts. Erst als eine Sozialarbeiterin sich für eine Ultraschall-Untersuchung einsetzt, wird der riesige Tumor im Bauch der Mutter gefunden und entfernt.
Der Makel der Herkunft
Roma spüren schon als Kinder den vermeintlichen Makel ihrer Herkunft: Als Keva anderthalb ist, schwänzen zwei Geschwister die Schule. Die Kinder der Familie werden in ein Heim gesteckt, auch Keva. „Ich weiß nur noch, wie die mich da zu einem Bettchen geführt haben“, erinnert sie sich. „Das war schrecklich.“ Neun Monate muss sie bleiben, dann dürfen die Kinder zurück. Und die eigene Schulzeit? Kevas erste Lehrerin zeigte sich als regelrechte Roma-Hasserin und war Alkoholikerin. Schon bald schwänzte das wissbegierige Mädchen und landete auf der Sonderschule – wie viele Roma-Kinder.
„Für Ausländer bin ich Tschechin“
Noch bis vor kurzem stand Keva am Tresen eines Bistros. Und wenn sie dort jemand nach ihrer Nationalität fragte? „Für Ausländer bin ich Tschechin“, erklärt Keva, die tschechische Staatsbürgerin ist, „aber wenn mich Tschechen fragen, sage ich, dass ich Roma bin“.
Manche sehen es ihr auch an: Erst kürzlich wollte Keva sechs Kleider für die Blumenmädchen ihrer Hochzeit kaufen. Die tschechische Verkäuferin schaute verächtlich und fragte: „Reicht es dafür bei dir überhaupt?“ „Ich glaube nicht“, hat Keva erwidert und den Laden verlassen. „Ich treffe auf immer mehr Neonazis, die Situation hier wird immer schlimmer“, resümiert die 21-Jährige.
Ausgrenzung verstärkt sich
Die Statistik gibt ihr Recht: Laut einer EU-Studie von Ende 2009 fühlen sich die tschechischen Roma so sehr diskriminiert wie keine andere Minderheit oder Migrantengruppe in Europa. Die Regierung weiß das. Zum Teil seien die Ergebnisse verzerrt, sagte Anfang des Jahres die Leiterin des Regierungsbüros für Roma-Angelegenheiten, Gabriela Hrabanova. Die Lage der Roma in Tschechien sei nicht ideal. „Die gesellschaftliche Ausgrenzung hat sich in den letzten zehn Jahren eher verstärkt. Was den tatsächlichen Lebensstandard der Roma angeht, steht Tschechien im europäischen Vergleich aber sicher nicht an letzter Stelle.“
Darüber beschwert sich Keva auch nicht. Zurzeit räumt sie Hotelzimmer auf. In ihrer Freizeit triff sie Freundinnen, sie gehen ins Kino, shoppen oder in die Disko. Auch wenn Keva dasselbe macht wie gleichaltrige Tschechinnen, rechnet sie einer Versöhnung zwischen Tschechen und Roma nicht viele Chancen aus. „An dieser Situation kann man nicht viel ändern, weil wir die Tschechen einfach stören“, sagt die Roma.
Dabei hat sie gerade selbst einen kleinen großen Schritt für die Verständigung zwischen Mehr- und Minderheit gemacht: Am Silvesterabend hat Keva den tschechischen Bodenleger Marek kennengelernt, im April ist sie zu ihm und seinen Eltern gezogen. Vor einigen Tagen haben die beiden ein rauschendes Fest mit 130 Gästen gefeiert und geheiratet – Romatraditionen inklusive.