„Heute tobt ein kalter Krieg in den Straßen von Vukovar“
Unkraut wuchert aus Fensterhöhlen, Einschusslöcher in den Fassaden wechseln sich mit verkohlten Dachbalken ab. Schuttberge sind oftmals alles, was von den pittoresken Barock- und Rokkokohäusern in der kroatischen Kleinstadt Vukovar noch übrig geblieben ist. Das monumentale weiße Kreuz an der Donau – die die Grenze zu Serbien bildet – mahnt das dunkelste Kapitel in der fast tausendjährigen Vergangenheit von Vukovar an, den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien. Durch ihn wurde die Stadt vor nunmehr 15 Jahren fast vollständig zerstört.
Vukovar war im August 1991 erstes Ziel der serbischen Angriffe auf Kroatien. Noch immer sind Zerstörung und Trauer allgegenwärtig. Die Kämpfe mit Schusswaffen und Granaten seien vorbei, heute greife man zu subtileren Mitteln, sagt Ljiljana Gehrecke. In den Straßen von Vukovar tobe nun ein kalter Krieg. Kroaten würden „ihre“ Musik laut aufdrehen, um Macht zu demonstrieren – die serbischen Nachbarn würden mit „ihrer“ Variante entsprechend laut darauf reagieren. Wer bei einem kroatischen Bäcker nach einem „chleb“ frage, dem serbischen Wort für Brot, werde womöglich ignoriert, erzählt Ljiljana Gehrecke. Es sei absurd – ein Leben in Parallelgesellschaften. Serben und Kroaten hätten jeweils ihre eigenen Geschäfte, Kneipen und Vereine. Einer der wenigen Orte, an denen sie zusammentreffen, ist das Europahaus Vukovar, das von Ljiljana Gehrecke geleitet wird. Dort engagieren sich einige wenige Mitglieder der beiden Volksgruppen für eine bessere Zukunft, mit Seminaren und Workshops.
Massengräber der Opfer des Jugoslawienkriegs in Vukovar / Veronika Wengert, n-ost
Vukovar - Stalingrad des Balkans
Im Sommer 1991 spitzen sich die ethnischen Feindseligkeiten zwischen Serben und Kroaten zu, vor allem in Vukovar, wo vier von zehn Bewohnern Serben sind. Radikale unter ihnen träumen von einem eigenen Staat in Kroatien – der Serbenrepublik Krajina – mit Vukovar als Hauptstadt. Die Situation gerät außer Kontrolle, als im Mai 1991 zwei kroatische Polizisten in Borovo Selo, nahe Vukovar, von serbischen Rebellen ermordet werden. Die kroatische Regierung schickt ein Spezialkonvoi – zwölf Menschen sterben, über 20 werden verletzt. Zagreb formiert die erste kroatische Nationalgarde, verkündet seine Unabhängigkeit vom Vielvölkerstaat Jugoslawien.
Am 17. August 1991 marschieren Panzer der serbisch kontrollierten Jugoslawischen Volksarmee in Ostslawonien ein, am 24. August umzingeln sie Vukovar, das strategisch wichtige Tor nach Ostkroatien. Drei Monate lang prasseln 800.000 Granaten und Geschosse auf die Stadt. Die Menschen harren in Kellern aus, ohne Strom, ohne Wasser. Gut 1.000 Polizisten und Soldaten, die von 800 Freiwilligen unterstützt werden, verteidigen die eingekesselte Stadt. Am 18. November 1991 kapituliert Vukovar. Serbische Einheiten marschieren in die Stadt ein, in der sich noch 2.000 Bewohner aufhalten. Sie zwingen über 300 Menschen aus dem örtlichen Krankenhaus in Busse und bringen sie zur nahe gelegenen Schweinefarm Ovcara. Was dann geschieht, ist bis heute nicht ganz geklärt: Mehr als 260 Menschen werden ermordet und in ein Massengrab geworfen. Das Massengrab wird erst 1996 mit Hilfe der UN ausgehoben, heute steht dort ein Mahnmal. Die Festnahme der verantwortlichen drei Offiziere – die so genannte „Vukovar-Trojka“ – dauert bis Ende 2003.
Als Resultat der Schlacht um Vukovar, die der Stadt den Beinamen „Stalingrad des Balkan“ eingebracht hat, ist die Stadt großteils zerstört, Tausende Tote und Verletzte auf serbischer und kroatischer Seite sind zu beklagen. Mehr als 5.000 Einwohner werden in serbische Lager verschleppt, viele kehren nie zurück. UN-Truppen werden in die von Serben besetzte Stadt verlegt, dennoch gehen Plünderungen und Gewalt über Jahre weiter. Die internationalen Blauhelme bleiben noch bis Anfang 1998 – mehr als zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Erdut 1995, der die Stadt Kroatien zuspricht.
Vor dem Krieg war Vukovar für sein multiethnisches Miteinander bekannt. Mehr als 40.000 Menschen lebten hier, die fast 20 verschiedenen Volksgruppen angehörten: Kroaten und Serben fast zu gleichen Teilen, aber auch Ungarn, Deutsche und andere. Heute ist die Bevölkerung um ein Viertel geschrumpft, statt der ethnischen Vielfalt dominiert die serbisch-kroatische Spaltung. Diese beginnt bereits im Schulalter, man bleibt sich von klein auf fremd. So wie auf dem Vukovarer Gymnasium, das von Schuldirektor Josip Prpa geleitet wird, einem Kroaten. 350 Schüler hat er, davon besuchen knapp 150 den serbischen Teil des Gymnasiums. Dieses ist in einem anderen Gebäude untergebracht, hat eine eigene Schülerzeitung, eigene Arbeitsgemeinschaften. Die Bücher stammen teilweise aus Belgrad, der Lehrplan unterdessen aus Zagreb, erzählt Prpa. Wer sein Abitur am serbischen Gymnasium ablegt, bekommt zweisprachige Zeugnisse, in Lateinschrift und Kyrillisch. Ansonsten gelten Kroatisch und Serbisch als eine Standardsprache mit zwei Varietäten, deren Wortschatz zu 95 Prozent identisch ist, schätzen Sprachforscher. Auch wenn dies viele nationalistisch Gesinnte so etwas bis heute nicht gerne hören.
Zehn Millionen Touristen in der diesjährigen Sommersaison, ein jährliches Wirtschaftswachsum von vier Prozent – das sind Zahlen, die sich anderswo in Kroatien abspielen. In Vukovar gelten andere Standards: Große Teile Ackerland rund um die Stadt sind immer noch vermint. Das Agrarkombinat Vupik bestellt heute gerade mal 1.000 von einst 15.000 Hektar Nutzfläche. Die Schuhfabrik Borovo war mit 30.000 Angestellten einst der größte Arbeitgeber der Region, nun finden nur noch wenige ihr Auskommen hier. Die offizielle Arbeitslosenquote ist in Vukovar zweimal höher als im Landesschnitt, sie liegt bei 34 Prozent.
15 Jahre nach dem Beginn der Kämpfe ist Vukovar immer noch vom Krieg gezeichnet / Veronika Wengert, n-ost
Ein Hauch von Fortschritt ist auch in Vukovar zu finden: Mehrere verspiegelte Bankgebäude im Zentrum, die mit der Vier-Sterne-Nobelherberge „Lav“ (Löwe) um die Wette glitzern, wechseln sich mit Ruinen und Schuttbergen ab. Die Regierung müht sich, die Stadt attraktiver zu machen: Zwei Freihandelszonen, die Investoren mit Steuer- und Zollerleichterungen locken sollen und attraktive Wohnungsangebote für Rückkehrer. So wie der deutschstämmige Josip Kiss, der rund drei Jahrzehnte als Gastarbeiter in Nordrhein-Westfalen gelebt hat. Wie die meisten seiner Landsleute in der Ferne steckte er all seine Ersparnisse in den Hausbau in der Heimat. Ziegel für Ziegel ging es voran. Als Kiss einziehen wollte, fielen die ersten Granaten, zerstörten das Haus. Der Rentner verschob seine Rückkehr um einige Jahre, inzwischen hat er das intakt gebliebene Nachbarhaus gekauft. Er könne nicht ohne die Donau leben, so sein Rückkehrmotiv. Doch diese ist zum Ende der Welt geworden.
Seit 15 Jahren sind die Fährverbindungen zur serbischen Gemeinde Bac eingestellt. Wer Verwandte besuchen möchte, muss große Umwege in Kauf nehmen. Nun will die niederländische Regierung für 1,5 Millionen Euro den Fährbetrieb wieder einführen. Ein wenig Optimismus verbreitet auch die „Vukovarer Insel“ in der Mitte der Donau: Erstmals seit 15 Jahren darf hier in diesem Sommer ohne Passierschein gebadet werden. Doch der Streit geht weiter: Die etwa 1.000 Hektar große Insel ist im Katasterbuch von Vukovar eingetragen, gehört jedoch territorial zur serbischen Gemeinde Bac. Ähnliche Grenzprobleme gibt es auch anderswo entlang der Donau. Kroatien erhebt Anspruch auf 10.000 Hektar Land, das seit 1991 Teil von Serbien ist. Umgekehrt fordert Serbien 3.000 Hektar Grundstücke auf der kroatischen Seite der Donau. Seit Jahren versucht eine bilaterale Kommission den Disput zu lösen – bislang allerdings ohne Erfolg.