Ukraine

Land ohne Regierung

Dreieinhalb Monate nach den Parlamentswahlen hat das ukrainische Parlament noch immer keinen neuen Regierungschef gewählt. Präsident Juschtschenko droht nun offen mit Neuwahlen. Dabei schien es noch am 22. Juni, als habe das Geschacher um Posten- und Personen seit den Parlamentswahlen ein Ende. An diesem Tag wurde die Bildung der so genannten „orangenen Koalition“ bekannt gegeben, in der sich die politischen Kräfte der orangenen Revolution wieder vereint hatten. Die beiden einstigen Protagonisten der Revolution, Julia Timoschenko und Präsident Viktor Juschtschenko, hatten hierfür ihre Streitigkeiten beigelegt und sich gemeinsam mit den Sozialisten auf Timoschenko als Premierministerin geeinigt.

Doch bis zur Regierungsbildung kam die Koalition nicht. Zunächst blockierte die Opposition, angeführt von dem durch die Revolution entthronten Viktor Janukowitsch, das Parlament. Und in der vergangenen Woche erklärte der Führer der Sozialisten, Olexander Moros, überraschend den Austritt seiner Partei aus der orangenen Koalition – um gleich darauf die Bildung einer neuen „Antikrisenkoalition“ zwischen der Partei der Regionen, den Sozialisten und Kommunisten im Parlament bekannt zu geben.

Nun blockierten die orangenen Kräfte ihrerseits das Parlament. Mit Sirenengeheul versuchten sie die Parlamentssitzungen zu stören. Es kam zu Tumulten und chaosartigen Szenen.  Juschtschenko wie Timoschenko sprechen von Verrat und monieren, dass Moros gesetzeswidrig die Seiten gewechselt habe. Denn laut Vorschrift hätte der Sozialistenchef die Parteien Juschtschenkos und Timoschenkos zehn Tage im Voraus über seine Absicht, aus der orangenen Koalition auszuscheiden, informieren müssen. „Dieses Verfahren ist genau deswegen eingeführt worden, damit sich die Koalitionspartner nicht einfach gegenseitig fallen lassen können“, beschwerte sich Timoschenko in einem Interview mit der russischen Zeitung Izwestija.

Wahlplakat in der Ukraine im März 2006 / Tomma Schröder, n-ost

Tatsächlich sind solche Regelungen − ebenso wie die Erschwerung des Fraktionswechsels − getroffen worden, um den oft durch Schmiergelder geförderten Wankelmut der Parlamentarier zu unterbinden und Stabilität in das Parlament zu bringen. Doch auch die neu eingeführten Regeln scheinen dem Land keine Stabilität zu bringen. Eine Klage gegen Moros’ Vorgehen, die Timoschenko und Juschtschenko beim Amtsgericht einreichten, wurde mit dem Verweis auf das zuständige Verfassungsgericht zurückgewiesen. Die Krux ist: Das Verfassungsgericht existiert de facto gar nicht, denn die Wahl der Verfassungsrichter wird vom Parlament blockiert − die Katze beißt sich in den Schwanz.

„Das Problem ist einfach, dass man sich nicht an die grundlegenden demokratischen Verhaltensregeln hält – und das gilt für alle Beteiligten“, meint Heiko Pleines, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen. Wer sich mit seiner Meinung oder Partei in der Minderheit befinde, zerstöre die elektronische Anlage zur Stimmabgabe, lärme mit Sirenen, blockiere, intrigiere oder schlage bockig um sich. „Das hat schon was von Kindergarten“, bemerkt Pleines. Und so hält der Ukraineexperte die Durchsetzung demokratischer Standards auch für viel entscheidender als die Frage, wer letztendlich den Ministerpräsidenten und die Regierung stellt. „Anstelle von einzelnen Parteien sollte man lieber die demokratische Entwicklung im Ganzen unterstützen.“

Diese Entwicklung dürfte sich jedoch schwierig gestalten. Denn wer, wann und mit wem die Regierung stellen wird – dazu wagen auch ukrainische Experten keine Prognose mehr. Die Möglichkeit einer großen Koalition zwischen Janukowitsch und Juschtschenko ist wegen der Forderung beider Parteien, den Premierminister zu stellen, eher unwahrscheinlich und wurde von einem Sprecher der Partei des Präsidenten bereits ausgeschlossen. Aber auch die jetzige Krisenkoalition −sollte sie sich tatsächlich durchsetzen− wird kaum stabil und handlungsfähig sein. Neuwahlen werden nun von Juschtschenko immer häufiger ins Spiel gebracht, obwohl seine Partei dann eher schlecht abschneiden dürfte. Nur ein Zusammengehen mit der Partei Julia Timoschenkos dürfte die Partei des Präsidenten in einem solchen Fall vor der Bedeutungslosigkeit retten. 


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