Der gute Geist von Haapsalu
In der ersten Vollmondnacht im August feiert der estnische Kurort die Wiederkehr eines GespenstesTallinn (n-ost) - Die Schwedenstube könnte einem Märchen entsprungen sein. Agneta, eine freundliche alte Frau, weißhaarig und runzlig, sitzt vor dem Spinnrad und lässt den Faden durch ihre Finger gleiten, während das hölzerne Fußpedal rhythmisch klappert. Daneben sitzt Silvi am Webstuhl, aufrecht wie eine Klavierspielerin, und summt leise vor sich hin. Die Szene scheint aus dem 19. Jahrhundert zu stammen, doch es ist ein typischer Donnerstagnachmittag in Haapsalu (Hapsal) einer estnischen Kurstadt, etwa 100 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt Tallinn (Reval) gelegen.„Donnerstags treffen wir uns hier, meistens zu acht, und machen gemeinsam Handarbeit“, sagt Silvi und blinzelt mit ihren huskyblauen, von vielen Lachfältchen umrahmten Augen, als ein heller Lichtstrahl durch die geklöppelten weißen Gardinen hindurch auf ihr Gesicht trifft. Dann senkt sie wieder den Kopf und widmet sich ihrer Arbeit. Nicht nur in der Handarbeitsstube, hoch oben im Dachgeschoss des „Museums der Küstenschweden“, auch in anderen Teilen des Kurortes scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: In Haapsalu finden sich entlang der Strandpromenade hölzerne Villen aus Zarenzeiten, uralte Bäume und eine mittelalterliche Burg. Doch der Kurort ist mehr als ein Museum, er schafft es, seine Vergangenheit zu leben, Geschichte und Geschichten mit der Gegenwart zu verknüpfen. Märchen und Legenden spielen dabei eine bedeutende Rolle.Geisterstunde in Haapsalu, Foto: Alexandra FrankAm besten kann man sich davon im Sommer überzeugen, wenn sich hunderte Schaulustige um die alte Domkirche versammeln, die von Mauerresten und Türmen der Ordensburg umrahmt im Herzen der Altstadt liegt. Nicht nur Einheimische kommen zur ersten Vollmondnacht im August her, sondern auch Touristen. Schweden und Deutsche, Russen und Dänen, all jene Völker, die im Laufe der Jahrhunderte schon einmal in Haapsalu das Zepter in der Hand hielten, außerdem natürlich Finnen, Letten und neuerdings auch Südeuropäer, die sich seit dem EU-Beitritt Estlands vor zwei Jahren langsam in das nordbaltische Land wagen. Wenn der Vollmond nicht von Wolken verdeckt ist, soll er hinter dem gotischen Fenster der Taufkapelle erscheinen, der Geist der weißen Dame. Im Mittelalter, so erzählt man sich, habe ein Domherr seine Geliebte als Chorknabe verkleidet in die Burg gebracht. Doch die glockenhelle Stimme des Mädchens erregte so viel Aufmerksamkeit, dass seine wahre Identität schnell ans Licht kam. Dafür wurde das Liebespaar streng bestraft, denn Frauen durften die Burg niemals betreten. Während der Domherr bis an sein Lebensende in den Kerker gesperrt wurde, hatte man sich für das Mädchen eine besonders grausame Strafe ausgedacht: sie wurde lebendig in die Kapelle eingemauert. Als Zeichen für ihre unsterbliche Liebe erscheint ihr Geist bis heute in der ersten Vollmondnacht im August im Kapellenfenster. Alljährlich warten die Besucher des „Festivals der weißen Dame“ auf eine seltsame Reflexion, hervorgerufen durch den Mond, der genau um diese Jahreszeit in einem bestimmten Winkel zur Erde steht. Das Fest gehört zu den beliebtesten der Region. Auch Agneta, Silvi und die anderen sind ein gutes Beispiel für die Geschichtsverbundenheit Haapsalus. Die alten Damen treffen sich in der Dachkammer des Museums der Küstenschweden vor allem, um die gemeinsame Sprache zu pflegen, die hier an der Küste Estlands neben Deutsch und Estnisch lange Zeit gang und gäbe war: Schwedisch.
Im unteren Geschoss des Museums erzählen Ausstellungsstücke von der Geschichte der estnischen Küstenschweden, die wahrscheinlich im 13. Jahrhundert über Finnland die nordwestliche Küstenregion Estlands besiedelten. Fotos von stolz blickenden Bauern, die im Gegensatz zu den Esten stets frei waren und eigenes Land hielten und bewirtschafteten. Puppen in alten Hochzeitstrachten, die an ein altes Gesetz erinnern: es besagte, dass die schwedischen Siedler ihre Freiheit verlören, wenn sie sich mit Esten verheirateten. Sicherlich ein ausschlaggebender Grund, warum die schwedischen Siedlungen über Jahrhunderte Bestand hatten. Ein Wandteppich, der die Geschichte der Küstenschweden in bunten Bildern nacherzählt, dokumentiert auch das Ende jener Siedlungen. Von etwa 8500 Schweden, die einstmals in Estland lebten, flüchteten 7000 im Jahre 1944 vor der herannahenden Roten Armee zurück nach Schweden. Heute erinnern nur noch zweisprachige Ortsschilder nördlich von Haapsalu und rote Holzhäuschen auf den vorgelagerten Inseln, alte Grabsteine und das Museum an ihre Anwesenheit. Und natürlich die wenigen Küstenschweden, die noch in Estland leben – wie eben Agneta und Silvi. „Vor zwei Jahren waren sogar einmal Königin Silvia und König Carl Gustaf da“, erzählt Silvi strahlend lächelnd.Auch Jorma Friberg ist ein Nachfahre der Küstenschweden. Bei schönem Wetter fährt er mit einer „Jaal“ - dem traditionellen Segelschiff der Küstenschweden, hinaus auf die Haapsaluer Bucht bis zur Halbinsel Noarootsi. „Eine Rekonstruktion, an der ich anderthalb Jahre gebaut habe“, erklärt er und springt an Bord. Einfach sei das nicht gewesen, denn Pläne hätte es nicht mehr gegeben von jenen schlanken Seefahrzeugen, die bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zur Seehundjagd und zu Handelsfahrten genutzt wurden. „Aber dann haben wir einen alten Schiffbaumeister in Schweden aufgetan“, erzählt Friberg.
Auf dem Weg hinaus aufs Meer passiert das Boot die Haapsaluer Strandpromenade, an der heute wie damals die Kurgäste der kleinen Stadt flanieren. Bereits 1805 wurde vor Ort das erste Badehaus gebaut, doch das Geburtsjahr Haapsalus als Kurort liegt im Jahr 1825, als ein gewisser Carl Abraham Hunnius die heilende Wirkung des Schlamms entdeckte und zur Gründung des ersten Heilschlammbads beitrug. Die russische Zarenfamilie und reiche Petersburger gaben sich hier ein Stelldichein. Peter Tschaikowski ließ sich hier zu seiner VI. Symphonie inspirieren. Kureinrichtungen, Villen und Pensionen entstanden, zumeist mit hübschen Holzschnitzereien verziert. Auch heute wird der Ort seinem Ruf als beschauliche Kurstadt gerecht, wenngleich die Kurhotels der Stadt mittlerweile aus den Holzhäusern in moderne Gebäudekomplexe umgezogen sind, die den westlichen Standard längst erreicht haben.Auf Geheiß des Zaren wurde 1905 eine Eisenbahnlinie von Tallinn nach Haapsalu errichtet und ein Bahnhof gebaut, der neben dem sorgfältig renovierten hölzernen Kursaal an der Promenade noch heute zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt zählt. Auch hundert Jahre nach seiner Erbauung weisen die Stadtbürger mit stolz geschwellter Brust darauf hin, dass der von rot-gelben Holzsäulen gesäumte Bahnsteig mit 216 Metern Länge seinerzeit als längster überdachter Bahnsteig Nordeuropas galt. Züge fahren ihn nicht mehr an, doch dank des Eisenbahnmuseums, das im rechten Flügel des Gebäudes untergebracht ist, findet man auch heutzutage noch Züge und Loks aus alten Zeiten auf den Gleisen vor. Ein kleines gelbes Häuschen trägt den Namen Wikland-Haus in Erinnerung an einen weiteren Gast der Stadt, die Künstlerin Ilon Wikland, die in ihrer Kindheit mehrere Sommer in Haapsalu verbracht hat. Sie selbst war 1944 in Alter von 14 Jahren von Estland nach Schweden emigriert, doch Haapsalu ließ sie auch dort nicht los. Sie machte sich als Künstlerin einen Namen. Die meisten Bücher Astrid Lindgrens, darunter auch Pipi Langstrumpf, wurden von ihr illustriert und bei dem einen oder anderen Motiv soll sie von Haapsalu inspiriert worden sein. Und so floss der Geist der hübschen Küstenstadt, die einem Märchen entsprungen zu sein scheint, selbst wieder in Geschichten und Erzählungen ein. *** Ende ***Infokasten:
Anreise: Mehrmals pro Woche fliegt Estonian Air von Hamburg, Frankfurt und Berlin direkt nach Tallinn, Easyjet verbindet Berlin mit Tallinn.
Touristische Informationen:
- Baltikum Tourismus Zentrale, Katharinenstraße 19-20, 10711 Berlin, Tel.: 030-89009091, www.baltikuminfo.de
- Mare Baltikum Reisen, Eichenstraße 27, 20259 Hamburg, Tel. 040-494111,
www.mare-baltikum-reisen.de-----------------------------------------------------------------------
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