Rumänien

Die elternlose Generation

In Rumänien vereinsamen Tausende von Kindern – die Eltern arbeiten illegal im WestenKlausenburg/ Cluj-Napoca (n-ost) – Ende März hat sich im Dorf Deleni in der verarmten rumänischen Region Moldau ein Zehnjähriger vor Sehnsucht nach seiner in Italien arbeitenden Mutter im Schuppen aufgehängt. In der Ortschaft Belcesti, im Kreis Jassi hat ein 16-jähriger Junge im Juni einen alten Mann ermordet. Der Alte war angetrunken, hat dem Jungen etwas über seine im Ausland arbeitende Mutter gesagt, woraufhin der Minderjährige agressiv wurde und ihn zu Boden stieß. Mit fatalen Folgen.Fälle wie diese finden sich immer wieder in rumänischen Zeitungen. Mehr als zwei Millionen Rumänen suchen ihr Glück im Ausland, um mit dem dort erarbeiteten Geld ihren Familien eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die meist illegalen Arbeiter verdienen im Schnitt 650 Euro, etwa 2,5-mal so viel wie ein rumänischer Durchschnittslohn. Der Preis dafür ist hoch: Familien werden zerrissen, hunderttausende Kinder bleiben elternlos zurück, kommen notdürftig bei Verwandten oder Nachbarn unter. Auf den seelischen Schock reagieren sie unterschiedlich: Manche werden introvertiert und selbstmordgefährdet, andere werden zu Schlägern und Schulschwänzern, begehen Straftaten. Eine ganze Generation fühlt sich alleingelassen.  Kinder von rumänischen Arbeitsmigranten, Foto: Laura Capatana-JulerAlin spricht nicht gern von seinen Eltern. Sein Vater ist seit drei Jahren in Spanien, die Mutter folgte ihm ein Jahr später. Erst jetzt, nach 2 Jahren, hat der Junge sie wiedergesehen. Er hat sie vermisst, „wie jedes Kind seine Eltern vermisst“, erklärt er. Mehr kann er nicht sagen, sein Kinn zittert, der Blick ist gesenkt. Er ist seinen Eltern nicht böse, dass sie ihn alleingelassen haben, denn er weiß, dass sie ihn „am meisten lieben, weil sie mir immer mehr Geschenke als den Geschwistern schicken.“ Der 13-jährige wohnt mit Onkel und Tante in einer Einzimmerwohnung in der Kleinstadt Dej, im siebenbürgischen Kreis Klausenburg/ Cluj-Napoca. Seine Geschwister, vier und sechs Jahre alt, sind bei den Großeltern auf dem Land. Sie sehen sich nur gelegentlich.
„Ich darf machen was ich will“, erzählt der Junge. „Nach der Schule gehe ich immer Fussball spielen bis es dunkel wird.“ Dass seine schulischen Leistungen nicht gut sind, interessiert ihn kaum. Ganz anders bei der zehnjährigen Călina. Die Großeltern bemühen sich um eine gute Erziehung und haben das Kind in ein Tageskinderzentrum geschickt, wo es Hausaufgaben macht. „Wir können ihr nicht so helfen, wie ihre Mutter es tat. Ich habe zwei Klassen besucht, mein Mann war gar nicht in der Schule“, sagt Maria Mureşan, Călinas Grossmutter. Călinas Gedanken sind ständig bei ihrer Mutter. Diese arbeitet schwarz als Kinderpflegerin in Italien, wo sie als Illegale in einer Zweizimmerwohnung mit sechs anderen Rumänen wohnt. „Sie würde morgen kommen, wenn ich wollte, aber sie hat Angst, an der Grenze erwischt zu werden“, erzählt Maria. Der Vater will von beiden nichts mehr wissen.Das Mädchen weint oft, spielt nur selten mit anderen Kindern und ist fast immer allein, mit dem Fotoalbum aus Italien in der Hand. Jeden Donnerstag und Sonntag ruft ihre Mutter an. Sobald sie offizielle Papiere in Italien erhält, wolle sie zurückkommen und ein Haus für sich und das Kind bauen. Bis dahin schickt sie der Zehnjährigen Kleider, Süßigkeiten und Geld für Schmuck. Schmuck ist der Grund dafür, dass der 17-jährigen Dorel aus Klausenburg ins Gefängnis geraten ist. Zusammen mit fünf Freunden hat er Schmuck gestohlen. Die Hoffnung, seine Mutter wiederzusehen, die in Irland arbeitet, hat er schon vor Jahren aufgegeben. 50 Euro schickt sie ihm monatlich. Mit seinem Vater, der auf ihn aufpassen soll, kommt er nicht klar. Seine kriminellen Freunde sind seine Ersatzfamilie. Jedes dieser Kinder lebt seine Einsamkeit anders aus. Allein im Kreis Klausenburg sind über 250 Kinder allein zurückgeblieben, zwei davon mussten zur Adoption freigegeben werden, sechs andere leben in Heimen. In der Stadt Jassi sind es 836 Fälle. Landesweit ermittelten die Behörden mehr als 18.000 Kinder, deren beide Elternteile legal im Ausland leben. Die Zahl der Kinder, die von illegal im Ausland arbeitenden Eltern zurückgelassen wurden, wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder, eine mit Computer, Mobiltelefon, vielleicht mit einem guten Studium, denken die wenigsten Eltern an die Folgen ihrer Abreise. Meist kennen sich die Verwandten oder Nachbarn mit der Erziehung von Kindern nicht aus - oder sind nur am von den Eltern geschickten Geld interessiert. Auf dem Land müssen die Kinder nach der Schule oft hart arbeiten. „Die Kinder sind frustriert, auch wenn sie den Grund verstehen, warum ihre Eltern nun im Ausland leben. Ohne Aufsicht geraten viele auf einen falschen Weg. Es besteht die Gefahr, dass diese Generation sich als Erwachsene schwer in die Gesellschaft integrieren wird“, sagt Psychologe Dr. Laura Mateescu. „Die Seelen der Kinder werden zerstört, sie fühlen sich alleingelassen, verlieren die Orientierung. In einem Rumänien, das sich auf den Weg nach Europa gemacht hat, ist es unerhört, die Kinder heute noch nach der Schule zum Arbeiten aufs Feld zu schicken“, sagt Monica Filip, Leiterin einer Organisation für Kinderschutz in Klausenburg. Man müsse das Drama dieser Kinder-Schicksale ernst nehmen und Lösungen finden. In Rumänien bietet bereits jede Stadt Sozialdienste für derartige Fälle an, Nichtregierungsorganisationen befassen sich mit dem Problem - doch die wenigsten Rumänen wissen überhaupt, dass es solche Hilfen gibt. Nach dem EU-Beitritt Rumäniens wird eine noch stärkere Migration in den Westen befürchtet. Die Arbeitslosenrate in Rumänien liegt zwar nur bei 5,9 Prozent, bei vielen Jobs wird aber nur der Mindestlohn bezahlt - umgerechnet rund 100 Euro, die nicht einmal zum Uberleben reichen. Ende


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