Mazedonien am Scheideweg
So viel Gewalt hatte niemand erwartet: Schießereien, Handgranaten, Einschüchterung, Betrug – Mazedoniens politische Parteien scheinen zu allem bereit, um sich bei den Wahlen am 5. Juli Sitze im mazedonischen Parlament zu sichern.
Die EU, die Mazedonien zum Modellfall einer Befriedung des Balkans ausrief, hat die Entwicklung alarmiert. Derzeit versammeln sich die wichtigsten Vertreter der internationalen Gemeinschaft in der Hauptstadt Skopje zu einer Krisensitzung nach der anderen. Ihre Botschaft ist kompromisslos: „Es ist wichtig, dass diese Zwischenfälle sofort aufhören. Sonst können sie ernste und gefährliche Folgen haben für die Integration des Landes in die EU“, sagte EU-Chefdiplomat Javier Solana mazedonischen Medien.
Seit dem Rahmenabkommen von Ohrid, das 2001 einen bewaffneten Konflikt zwischen albanischen Rebellen und mazedonischen Sicherheitskräften beendete und von allen Parteien getragen wird, gilt Mazedonien als Erfolgsstory der internationalen Gemeinschaft. Größtes Problem neben dem ethnischen Konflikt ist die ineffiziente staatliche Verwaltung. Die Korruption ist weit verbreitet. Doch im Vergleich zu seinen Nachbarn – Serbien, Albanien und Kosovo – galt das Land bisher als chancenreichster Anwärter auf EU- und NATO Beitritt.
Mazedonien bemüht sich nach Kräften, wichtige Sektoren zu reformieren. Justizsystem und Polizei werden überholt, der Grenzschutz verbessert, und die Wirtschaft liberalisiert. Und obwohl dieser Prozess keineswegs so schnell verläuft wie von der EU gefordert, wurde Mazedonien im Dezember letzten Jahres mit dem EU-Kandidatenstatus belohnt. Die Mazedonier bejubelten diesen wichtigen Schritt, doch nun scheint die EU-Perspektive beim Kampf um Einfluss in Parlament in weite Ferne gerückt zu sein, zumindest für einige Parteien.
Turbulenter Wahlkampfstart
Die meisten Zwischenfälle wurden in den überwiegend von Albanern bewohnten Gebieten verzeichnet. Diese waren schon während der Kommunalwahlen im letzten Jahr Hauptschauplatz der von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierten Unregelmäßigkeiten und Übergriffe.
In Saraj, einem Stadtteil von Skopje, führen zwei konkurrierende albanische Parteien einen regelrechten Krieg gegeneinander. Gleich zu Beginn der Wahlkampagne wurde ein Büro der mitregierenden albanischen Partei DUI mit einem Bulldozer demoliert. Einen Tag später wurden Handgranaten in das örtliche Büro der größten albanischen Oppositionspartei, DPA, geworfen. Die beiden Parteien sind Hauptkonkurrenten im Kampf um die Stimmen der ethnischen Albaner.
Am vergangenen Wochenende kam es ebenfalls in diesem Stadtteil zu einer Auseinandersetzung der Anhänger beider Parteien, bei der Schüsse fielen. Vier Verletzte wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Weitere Berichte von gewaltsamen Übergriffen und Einschüchterung von Wählern sind an der Tagesordnung. „Die Albanischen Parteien führen Wahlkampf nach dem Muster ‚eine Kugel für eine Stimme’ oder ‚eine Kalaschnikow neben jeder Wahlurne’“, kommentierte der albanische Journalist Nebi Merseli die Zwischenfälle.
Der gewalttätige Wahlkampfauftakt ist Hauptthema in der Mazedonischen Presse / Marina von König, n-ost
Nationalistische mazedonische Politiker sehen inzwischen in den Albanern das größte Hindernis auf dem Weg in die EU. Doch auch die mazedonischen Parteien verstricken sich in heftige Kämpfe. So lieferten sich konkurrierende Gruppen von Plakatklebern der beiden großen Volksparteien „Sozialdemokratisches Bündnis Mazedoniens“ (SDSM) und „Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation“ (VMRO-DPMNE) eine nächtliche Schießerei mit Maschinengewehren Mitten im Zentrum der Hauptstadt. Glücklicherweise wurde niemand verletzt.
Oppositionsführer Nikola Grusevski, dessen Partei VMRO-DPMNE in Umfragen vorne liegt aber einen Koalitionspartner braucht, beschuldigte die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und der Albanerpartei DUI einen Geheimplan erarbeitet zu haben. Demnach solle Westmazedonien, wo überwiegend Albaner leben, gezielt destabilisiert werden. Dafür seien dort paramilitärische Kräfte aufgestellt worden. Ministerpräsident Vlado Buckovski (SDSM) weist dies als gezielte Manipulation der Wähler zurück.
Trübe Aussichten
In der vergangenen Woche wurden die Führer der beiden großen albanischen Parteien zu einem Treffen mit hochrangigen amerikanischen und EU-Diplomaten bestellt. Unter vereintem diplomatischem Druck entschlossen sich die beiden Parteiführer zu einer gemeinsamen Erklärung, die die bisherigen Vorfälle verurteilte und die Parteiaktivisten zum Gewaltverzicht aufforderte. Sollten die Wahlen am 5. Juli internationalen Standards nicht gerecht werden, droht dem Land die Stagnation.
In einer Zeit wachsender Erweiterungsskepsis in Europa riskieren es einige Politiker, die europäische Zukunft des Landes zu verspielen. „Einen mit Gewalt erzielten Pyrrhussieg können wir nicht gebrauchen“, unterstreicht der Ministerpräsident Buckovski.
Doch auch für die EU steht viel auf dem Spiel: „Ein Balkanghetto von schwachen Staaten ohne EU-Perspektive mit porösen Grenzen und florierendem organisiertem Verbrechen ist für niemanden eine ernstzunehmende Alternative“, sagte ein hochrangiger Diplomat in Skopje. Daher wird sich die internationale Gemeinschaft selbst nach einem Wahldesaster nicht ihrer Verantwortung entziehen können.