14 000 Ermordete warten auf ihre letzte Ruhe
Staatskommission soll Kriegsverbrechen an Bosniern, Kroaten, Serben und Juden aufklären
Sarajewo (n-ost) - "Das Land braucht eine einheitliche, objektive und untersuchte Wahrheit. Tausende von Toten sollen nicht mehr Gegenstand von politischen Kämpfen sein, sondern endlich ihre letzte Ruhe finden“, sagt Mirjana, eine Serbin aus Sarajewo, die Ihren vollen Namen aus Angst nicht nennen möchte. Ihre Eltern wurden im Sommer 1993 von der bosnischen Armee entführt und ermordet.
Niemand kennt die genauen Zahlen der Opfer: Schätzungsweise 240.000 Toten, 170.000 Verwundeten, 36.000 Vermisste und 40 000 vergewaltigte Frauen und Mädchen sind die Bilanz des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Drei Gerichte, das Haager Kriegsverbrechertribunal, sowie die Gerichte in Sarajewo und Belgrad, haben es mit diesen gewaltigen Zahlen aufgenommen. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis allen Ermordeten, Verwundeten und Geschändeten wenigstens ein wenig Gerechtigkeit widerfahren ist.
Zumindest in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo soll es nun schneller gehen: Schätzungsweise 14.000 Menschen – Bosniaken, Kroaten, Serben und Juden – kamen zwischen 1991 und 1996 allein hier ums Leben. Zehn Jahre nach dem Ende des Kriegs hat die bosnisch-herzegowinische Zentralregierung nun eine „Staatskommission zur Erforschung der Ermordung von Serben, Kroaten, Bosniaken, Juden und anderen auf dem Territorium der Stadt Sarajewo“ gebildet.„Die Kommission hat die Pflicht in den nächsten zwölf Monaten den Tod und die Ermordung aller Bürger Sarajewos zu untersuchen und einen endgültigen Bericht vorzulegen. Sie soll unter anderem die Massen- und Individualmorde, die Einrichtung von Gefängnissen und Lagern, die Deportationen, Vergewaltigungen und alle anderen Verbrechen untersuchen“, erklärte dazu der bosnische Regierungschef Adnan Terzić. Die Kommission besteht aus zehn Personen: drei Serben, drei Kroaten, drei Bosniaken (bosnische Muslime) und ein Mitglied aus der Reihe der Minderheitenvölker. Noch sind die Namen der ausgewählten Personen nicht bekannt.Dass es die Kommission überhaupt gibt, ist ein großer Erfolg. Den Entschluss dazu trafen die beiden Kammern des bosnisch-herzegowinischen Parlaments bereits vor zwei Jahren. Vor der tatsächlichen Einrichtung schreckte der bosniakisch-muslimische Regierungschef aber lange zurück. Noch vor zwei Wochen bekundetet Terzić öffentlich: „Solange ich Regierungschef bin, wird es keine Kommission für Sarajewo geben“. Dass er damit verfassungswidrig handelte, war dem stark umstrittenen und nationalistischen Politiker egal. Erst als die serbischen Abgeordneten die Parlamentssitzungen boykottierten und die serbischen Minister die Arbeit der bosnischen Regierung blockierten, war Terzić dazu gezwungen, diese Kommission ins Leben zu rufen.So gespalten das Parlament ist, so geteilt ist auch die Stimmung im Lande selbst. Während die moslemischen Bosniaken die Kommission eher ablehnen, kämpften vor allem die Einwohner der Republika Srpska (RS), des serbischen Teils Bosniens, für die Umsetzung des Parlamentsbeschlusses. International gilt die serbische Seite als Aggressor während des Bosnienkriegs. Dass gerade auch Serben aus Sarajewo zu Kriegsopfern wurden, ist wenig bekannt. Das Spiel mit den Zahlen: unterschiedliche „Wahrheiten“Genaue Daten über die Anzahl der Ermordeten in Sarajewo hat niemand. Das Forschungs-Dokumentationszentrum (IDC) in Sarajewo geht man davon aus, dass es in den zehn Vorkriegsgemeinden Sarajewos etwa 14 000 Kriegstote gegeben hat. Am umstrittensten ist dabei die Zahl der in Sarajewo ermordeten Serben. Hierzu gibt es verschiedene Quellen, die weit auseinander liegen. Demnach sollen zwischen 800 und 5000 Serben in Sarajewo von Seiten der bosniakisch-muslimischen Armee verfolgt und ermordet worden sein. Das Innenministerium der RS, der serbischen föderalen Einheit in Bosnien, schätzt die Zahl auf 4000. Diese Zahl bestreitet Milan Bogdanović, der serbische Vorsitzende der Kommission der Vermissten in der RS: „Wir müssen ehrlich sein und genaue Daten nennen. Unseren Quellen nach werden etwa 900 Serben vermisst.“ Ende Mai veröffentlichte die bosnische Wochenzeitschrift „Slobodna Bosna“ (Das freie Bosnien) einen schockierenden Artikel unter dem Titel: „Das schreckliche Schicksal der Serben in Sarajevo“. Die Zeitschrift veröffentliche Fotos, auf denen ermordete Serben zu sehen sein sollen. Ähnlich wie die serbische Vermissten-Kommission geht auch „Slobodna Bosna“ von 850 ermordeten Serben aus, und bezieht sich dabei auf die Zahlen des Haager Kriegsverbrecher Tribunals. Die Serben sollen mit Billigung des damaligen bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović, durch Mitglieder der bosnischen Armee gefangen genommen, misshandelt und ermordet worden sein. Die letzte Ruhe: Die Familien der Ermordeten erwarten viel von der Kommission „Alle versuchen mit Zahlen zu manipulieren. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen“, sagt die Serbin Mirjana, die trotz der bitteren Familiengeschichte ihre Geburtsstadt Sarajewo nicht verlassen hat. „Ich glaube, dass dieser Staat am liebsten die Vergangenheit vergessen würde. Auch wenn ich von der bosnischen Regierung stark enttäuscht bin, ich werde weiterhin dafür kämpfen, dass meine Eltern gefunden werden und ich sie begraben kann“. Ihre Hoffnungen setzt Mirjana nun auf die Kommission. Genau wie auch Momčilo Šalipura, ebenfalls ein aus Sarajewo stammender Serbe. Seit Oktober 1993 sucht er seinen ermordeten Sohn. Dieser diente, obwohl Serbe, in der bosnischen Armee, wurde aber von Mitgliedern derselben Armee ermordet. Seine Leiche wurde einer serbischen Untersuchungskommission übergeben, ist seitdem aber verschollen. „Heute sage ich, dass Sie ihn zwei Mal ermordet haben: das erste Mal lebendig in Sarajewo, das zweite Mal haben ihn die Serben getötet“, sagt Momčilo. „Mein Sohn hat seine Stadt verteidigt, sein Haus, seine Familie. Er ist hier geboren. Deswegen war sein Platz auch in der bosnischen Armee, denn dies ist auch unsere Stadt. Hier sind wir geboren, und hier sterben wir auch“, ergänzt Momčilo mit Tränen in den Augen. Er hofft nun auf die Kommission und die Entdeckung der Leiche. „Ich habe auch schon eine Grabstätte für meine Familie auf dem Sarajewoer Hauptfriedhof gemietet: da werden wir alle begraben, und da werde ich auch meinen Sohn begraben. Ich hoffe nur, dass ich ihn finde, damit seine Seele endlich ihre Ruhe hat.“Ob die Kommission Einzelschicksale wie diese aufklären kann, oder sich im tagespolitischen Streit lähmt, bleibt abzuwarten. Nur zwölf Monate lang soll die Kommission wechselweise im muslimischen und serbischen Teil Sarajewos tagen und dabei in jedem Quartal über ihre Arbeit berichten. Die von ihr erarbeiteten Berichte sollen den Gerichten als Arbeitsgrundlage dienen. Hauptziel ist es, die Zahl der Opfer und ihre ethnische Zugehörigkeit endlich abschließend zu bestimmen. Dieser Prozess wird von allen Volksgruppen verlangen, sich über die durch „eigene Leute“ begangenen Verbrechen klar zu werden.Die breite Öffentlichkeit fordert bereits eine Kommission für ganz Bosnien-Herzegowina, um auch die Schicksale der anderen Hunderttausenden Kriegsopfer aufzuklären. Sie soll dem unwürdigen Spiel mit Zahlen und Toten ein Ende setzen und ihnen zu Gerechtigkeit verhelfen. Nur wenn die Toten zur Ruhe kommen, dies wird immer deutlicher, kommt auch das Land endlich zur Ruhe und kann sich eine eigene Zukunft erarbeiten.*** ENDE ***------------------------------------------------------------------------------------------
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