Ukraine

Wanderer zwischen Ost und West

Offiziell hat die Ukraine 48 Millionen Einwohner. Wie viele sich davon tatsächlich im Land aufhalten, ist jedoch unbekannt. Denn in den vergangenen Jahren sind immer mehr Ukrainer zum Arbeiten ins Ausland gegangen – zumeist illegal. Für die Bukowina im Westen des Landes gibt es Schätzungen, nach denen bereits jede dritte Frau im Ausland lebt und arbeitet − als Pflegerin, als Kinderfrau oder als Kellnerin. Für einen Monatslohn, der mit 500-600 Euro dem Vierfachen des ukrainischen Durchschnittslohnes entspricht, müssen die Migranten allerdings ein kleines Abenteuer auf sich nehmen. Sie reisen zumeist mit einem einfachen Touristenvisum ein und müssen sich vor Ort dann selbst zurechtfinden.

Auch Inna ist diesen Weg gegangen. Für 500 Euro bekam sie im Reisebüro ein Touristenvisum, setzte sich in einen Bus nach Italien und schaute sich zwei Tag die Sehenswürdigkeiten in Rom an: „Dann hat uns der Bus in Rom ausgesetzt“, erzählt die kräftige Frau mit unbeweglicher Miene. „Da war eine Frau, die schon in Italien war und sich etwas auskannte und gesagt hat, wer wo hin muss. Und so sind wir alle da geblieben. Der Bus ist leer zurückgefahren.“

Heute fahren jede Woche vierzig Kleinbusse aus Czernowitz nach Italien. Sie sind eines der wichtigsten Verbindungsmittel zwischen den ukrainischen Arbeitsmigranten und ihren daheim gebliebenen Verwandten und Freunden: Geld und Fotos, Besucher und Habseligkeiten, Briefe und Geschenke werden per Bus zwischen dem Mittelmeer und den Karpaten ausgetauscht. Doch die wenigsten halten diesen Fernkontakt auf Dauer aus. Kaputte Beziehungen, verkrachte Ehen und zerfallene Familien gehören in Czernowitz − einer Hochburg der Migration − zum Alltag.

„In meinem Semester gibt es viele Studenten, deren Eltern im Ausland arbeiten“, erzählt etwa die zwanzigjährige Olga. Ihre Mutter ist nach Italien gefahren, als sie 15 war. „Wir telefonieren sehr häufig, aber das ist natürlich kein Ersatz.“ Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester wartet sie jeden Tag auf die Rückkehr der Mutter. Bald wird das sein, „sobald genug Geld für eine Wohnung und das Studium der Kinder da ist“, sagt Olga hoffnungsfroh. Inna wollte so lange nicht warten. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie auf fremde Kinder aufpasst, während die eigenen zu Hause ohne Mutter aufwachsen. Als die energische Frau von dem ersten Wiedersehen mit ihren Kindern erzählt, redet sie plötzlich sehr leise: „Die Kinder sind rausgekommen, haben mich angeguckt. Na ja, der Kleine war eben damals noch zwei, als ich gegangen bin, und jetzt war er fünf. Er hat auch das Wort ,Mama’ gesagt, aber so kaltblütig, ohne Gefühle.“ Obwohl beinahe jede Familie in Czernowitz von dem Problem betroffen ist, gibt es kaum jemanden, der sich ernsthaft mit der Massenmigration beschäftigt. Die Politologen und Soziologen an der Universität zucken hilflos mit den Schultern, genau wie die Direktorin des Arbeitsamts: „Darüber haben wir keine Informationen“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln und fügt überzeugt hinzu: „Das ist doch das Problem der EU-Länder, nicht unseres“.

Viele Czernowitzer sehen das anders. Man klagt über die Abwanderung junger, oft qualifizierter Arbeitskräfte und Akademiker, die sich im Ausland als Maurer oder Putzfrau verdingen, über die heimischen Immobilienpreise, die durch das Kapital der Migranten in die Höhe schießen, über die vielen kaputten Familien. Dass diesen Klagen keine Taten folgen, liegt aber sicher auch daran, dass die Migration auch ihre positiven Seiten hat. In gewisser Hinsicht profitiere das Land natürlich von der Migration, gibt Volodimir Mrachkovskij zu, Leiter der staatlichen Abteilung für die Bekämpfung der illegalen Migration. Viele Migranten schicken das Geld zum Beispiel für Wohnung und Studium der Kinder in die Ukraine oder kehren für kurze Zeit zurück, gründen kleine Unternehmen oder Geschäfte. Trotzdem, meint Mrachkovskij, müsse man etwas gegen die Massenmigration tun. „Es ist wichtig dass die Migranten ihre Erfahrungen aus dem Ausland in die Wirtschaft der Ukraine einbringen“, doziert er.

Doch bis es dazu kommt, muss noch einiges getan werden. Denn die Erfahrungen als Kinderfrau, Pflegerin oder Kellnerin helfen in der Ukraine kaum weiter. Das hat auch Inna erlebt. Trotz Auslandserfahrungen und perfekter Italienischkenntnisse fand sie keinen Job in der Ukraine. Nachdem sie in Italien zum Schluss sehr gut verdient hatte, bot das Arbeitsamt in Czernowitz ihr einen Job für 300 Hrywnja, umgerechnet 50 Euro, im Monat an. Sie lehnte ab. „Und was ich jetzt mache?“, fragt sie mit einem ironischen Lächeln. „Ich arbeite wieder als Kinderfrau bei verschiedenen Müttern. Das ist nicht sehr lustig. Ich bereue es etwas, dass ich zurückgekommen bin. Alles ist langweilig. Die Stadt ist klein. Sagen wir so, ich weiß nicht, wo ich hingehöre.“


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