Jugend ohne Perspektive
Seinen Nachnamen will er nicht nennen, sein Gesicht verbirgt er unter breiter Hutkrempe. Nur seine bittend geöffnete Hand streckt er Passanten entgegen: Sechs oder mehr Stunden täglich sitzt Bekim so auf dem Bill-Clinton-Boulevard der kosovarischen Hauptstadt Pristina. Acht Euro etwa bettelt sich der 15-Jährige am Tag zusammen. Davon geht ein Euro für die Busfahrten von und zur Vorstadt drauf, wo Bekims fünfköpfige Familie lebt. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter Hausfrau, Geschwister fern jeder Schule, da die Familie kein Geld für Kleidung, Busse und Lehrbücher aufbringen kann. Bekim ist der einzige „Verdiener“ seiner Familie.
Laut „Riinvest“, der sozioökonomischen Forschungsagentur des Kosovo, leben mindestens zwölf Prozent aller kosovarischen Familien unter gleichen Bedingungen. Die durchschnittliche Sozialhilfe beträgt im Kosovo 53 Euro pro Monat und Familie. Das Budget der Regierung reicht aber nur für 50.000 Familien. Ob mit oder ohne Sozialhilfe – das Gros der Kosovaren lebt unterhalb der von der Weltbank definierten „Armutsgrenze“ von einem Dollar pro Kopf und Tag. Und so ein „Leben“ währt für viele nicht lange: Isa Mustafa, Sozialforscher bei „Riinvest“, errechnete, dass die armen 20 Prozent der Bevölkerung eine Lebenserwartung von unter 40 Jahren haben.
In vielerlei Hinsicht ähnelt die Situation im Kosovo frappierend der katastrophalen Lage im Irak. In sieben Jahren internationaler Präsenz im Kosovo, zivil durch UNMIK, militärisch durch KFOR, ist es nicht gelungen, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung entscheidend zu bessern. Je größer die Probleme werden, desto verzweifelter sucht die Internationale Gemeinschaft nach einer so genannten Exit-Strategie. Derzeit laufen in Wien die Verhandlungen über den zukünftigen Status des Kosovo. 1999 schrieb die UN-Resolution 1244 den Status des Kosovo als autonome Provinz Serbiens fest. Nun deutet vieles auf eine Unabhängigkeit des hauptsächlich von Albanern bewohnten Gebietes unter dem Patronat der EU hin.
Niemand weiß, wie viele Menschen in dem Gebiet überhaupt leben. Selbst die Regierung behilft sich mit „Schätzungen von 1,8 bis 2,4 Millionen“ – eine Differenz, die fast der gesamten Bevölkerung Montenegros entspricht. 1921 lebten nur 140.000 Albaner im Kosovo. 1948 waren es rund 660.000, 1971 eine Million, 1998 etwa 1,2 Millionen. Derzeit sind es eventuell über zwei Millionen. Es gab also in 80 Jahren fast eine Verzwanzigfachung der albanisch-stämmigen Bevölkerung, als Folge eines einzigartigen Babybooms. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen hat das Kosovo seit Jahrzehnten die „jüngste“ Bevölkerung Europas. Der Altersdurchschnitt liegt bei 23 Jahren. Serben, Montenegriner und andere Nachbarvölker sind über 14 Jahre „älter“. Gleichzeitig hat das Kosovo auch die höchste Sterblichkeit von Säuglingen (3,5 Prozent) und Müttern aufzuweisen.
Das Kosovo, mit 10.887 Quadratkilometer halb so groß wie Hessen, war immer der unterentwickeltste Teil Ex-Jugoslawiens. 1984, lange vor Ausbruch des Krieges, lag das Bruttoinlandsprodukt bei 26 Prozent des jugoslawischen Durchschnitts. Laut UNMIK werden in den nächsten fünf Jahren 180.000 Jugendliche auf einen Arbeitsmarkt drängen, der keiner ist: Die Arbeitslosenrate liegt bei geschätzten 70 Prozent. Junge Albaner, deren Asylbegehren in Westeuropa abgelehnt wurden, kehren in wachsender Zahl zurück. Gleichzeitig ziehen sich internationale Hilfsorganisationen aus dem Kosovo zurück. UNMIK und KFOR reduzieren ihr Personal, 50.000 Arbeitsstellen gingen in den letzten Jahren verloren. Im eigentlich rohstoffreichen Kosovo – es gibt dort große Bei, Zink und Braunkohlevorräte, dazu Chrom, Nickel und Bauxit - findet Wirtschaft kaum statt. Alte Industrieanlagen, etwa der Metallurgiekomplex „Trepca“, verfallen, neue entstehen nicht, ausländische Investoren lassen sich nicht sehen. Auch die Überweisungen von Gastarbeitern im westlichen Ausland gehen angesichts steigender Arbeitslosigkeit in Gastländern wie Deutschland zurück, die Importe übersteigen die Exporte um das Zehn- bis Zwanzigfache.
Nur die Schattenwirtschaft floriert. Einer der wichtigsten „Arbeitgeber“ ist die terroristische UCK, offiziell zwar aufgelöst und entwaffnet, aber im Verbund mit international organisierten Verbrecherbanden weiter aktiv. Der tschechische Autor Martin Dvorák hat bereits 2001 in seinem Buch „Kosovo auf eigener Haut“ alarmierende Details über die kosovarische Verstrickung in Waffen-, Drogen- und Menschenhandel berichtet. Und der Pole Marek Nowicki, bis Anfang des Jahres UNMIK-Ombudsman im Kosovo, berichtete ständig über die Gewalt von Seiten der albanischen Bevölkerungsmehrheit gegen Minderheiten wie Serben, Sinti und Roma, die von Steinwürfen auf Busse bis zu Schüssen auf Kinder reicht. Einer der Hauptgründe ist die Perspektivlosigkeit der albanischen Jugend. In seinem letzten Quartalsbericht 2005 schrieb Nowicki besorgt: „Ethnische Spannungen tragen nach wie vor zu einem spürbaren Sicherheitsrisiko bei, das durch politische Ungewissheiten und persönliche Gefahren verstärkt wird, vor allem bei den verletzlichen Nicht-Albanern. Jahrelang haben sie sich auf militärischen Schutz durch KFOR-Soldaten verlassen, sind nun aber überzeugt, dass diese Friedensstifter die Provinz demnächst verlassen werden. Und was kommt dann?“
Im Kosovo leben mindestens 580.000 Jugendliche, deren Zukunftschancen durch politische Fehler zunichte gemacht werden. Es gibt zu wenige Schulen für zu viele Schüler. Die Schulpflicht wird unter diesen Bedingungen nur unzureichend überwacht. Zudem wurden die im Kosovo verwendeten Schulbücher 2003 von der EU-Kommission als „ungeeignet für eine Erziehung zu Multiethnizität und Toleranz“ bezeichnet. Kosovarische Zeugnisse und Diplome werden nur in Albanien anerkannt. 1971 wies das Kosovo eine Analphabetenrate von 32,2 Prozent der über zehn Jahre alten Albaner auf. Die derzeitige Lage dürfte noch schlimmer sein.
Vor allem Mädchen und junge Frauen werden von ihren Familien oft frühzeitig aus der Schule geholt. Wie es ihnen dort ergeht, weiß Ariana Qosaj-Mustafa von der OSZE „Victim Advocacy“: Junge Frauen seien häufige Opfer häuslicher Gewalt, was zwar von einer „Mauer des Schweigens“ umgeben ist, nach Zeugnissen von Polizei und Ärzten aber enorme Ausmaße hat. „Focus Kosovo“, die UNMIK-Zeitschrift, zitiert immer wieder Aussagen, wie diese: „Frauen sind Eigentum ihrer Männer und verdienen Prügel, wenn sie nicht gehorchen“, „Junge Albaner sehen, wie ihre Väter und Freunde Frauen schlagen, und halten das für ganz normal“, „Keine Frau würde je die Polizei zu Hilfe rufen“. Der „Kanun“, das Sitten- und Blutrachegesetz der Albaner aus dem 15. Jahrhundert, wird immer noch befolgt.
Parallel zur wirtschaftlichen und sozialen Perspektivlosigkeit der Jugend, wachsen die Probleme durch Kriminalität, Drogensucht und HIV. Nach Angaben von Edona Deya, AIDS-Expertin im kosovarischen Gesundheitsministerium, schlägt Alarm: „Erst jetzt fangen wir langsam an, das reale Ausmaß von AIDS im Kosovo zu sehen“.
Der im Jahr 2005 vorgelegte Bericht der Internationalen Balkankommission fordert für das Kosovo langfristig eine EU-Perspektive. „Es ist extrem wichtig, dass die Leute eine Vision, eine Perspektive haben“, sagt das Kommissionsmitglied Carl Bildt, fügt jedoch enttäuscht hinzu: „Die Union hat zurzeit keine ausreichenden Strukturen, um die Herausforderungen anzunehmen, die vom Balkan kommen würden.“