„Titos Tod war sein einziger Fehler…!“
Tito ist lange vor dem Internet-Zeitalter gestorben. Vor genau 26 Jahren. Jetzt macht die Seite Titoville.com den toten Marschall weltweit wieder lebendig – und nicht nur die. Josip Broz, genannt Tito – geboren am 7. Mai 1892 in dem kroatischen Weindorf Kumrovec, gestorben am 4. Mai 1980 im Militärkrankenhaus des slowenischen Ljubljana – lebt! Er lebt allein in der makedonischen Hauptstadt auf mindestens 14 Schildern von Straßen, Brücken und Schulen. Er lebt in Filmdrehbüchern, auf Bühnen, in Radioprogrammen, Büchern, Liedern und besonders in Witzen. Egal ob Makedonier, Serben, Kroaten. Kosovo-Albaner oder Bosniaken – in immer neuen Umfragen bekunden Bürger aller ex-jugo¬slawischen Nachfolgestaaten ihre wachsende Sympathie mit Marschall Tito. In das kollektive Gedächtnis der heute zerfallenen, ökonomisch darbenden Region hat sich Tito als Staatschef eines einigen, von Ost und West umworben und mit Krediten verwöhnt Landes eingegraben.
Kumrovec, Titos kroatischer Geburtsort, war einst ein weltlicher Wallfahrtsort, die hier und da im Lande stehenden Tito-Büsten von Mestrovic, Augustincic und anderen großen Bildhauern waren Kultstätten – bis die Monumente von kroatischen Nationalisten gesprengt wurden. Nach dem Zerfall Jugoslawiens traten der Kroate Franjo Tudjman und der Serbe Slobodan Milosevic in der legendären weißen Tito-Uniform auf, doch je mehr sie dessen Rolle übernehmen wollten, desto mehr gingen sie den Menschen als schlechte Tito-Karikaturen auf die Nerven. Umfragen haben es dokumentiert: 33 Prozent der Serben und fast 39 der Montenegriner nannten Tito in Umfragen 1998 den „größten Jugoslawen des 20. Jahrhunderts“. Ende 2003 kürten ihn die Kroaten ihrerseits zur „größten Persönlichkeit der kroatischen Geschichte“. Gar nicht zu reden von den zahllosen Graffitis („Tito komm zurück, alles vergeben!“), von den „Tito“-Inschriften, die aus Steinen auf Berghänge gelegt wurden, den Tito-Bilder in Werkstätten, den Tito-Liedern von Lepa Brena oder Danilo Shivkovic, die heute noch jeder auswendig kann – Tito ist tot, aber als transnationale Identifikationsfigur erscheint er heute lebendiger als zu Lebzeiten. „Titos einziger Fehler war überhaupt zu sterben“, seufzte vor zehn Jahren die Belgrader Zeitschrift „Vreme“.
35 Jahre lang herrschte Tito, der im Zweiten Weltkrieg als kommunistischer Partisan den deutschen und italienischen Besatzungstruppen schwer zusetzte, über Jugoslawien. 1963 war er zum Staatsoberhaupt auf Lebenszeit ernannt worden. Als er am 8. Mai 1980 starb, wurde Tito am Kuca Cveca, dem „Blumenhaus“ in Belgrad bestattet – „mit dem großartigsten Begräbnis der bisherigen Menschheitsgeschichte“, wie der Belgrader „Danas“ im nachhinein feststellte: Spitzenpolitiker aus 127 Staaten gaben ihm das letzte Geleit, unter ihnen vier Könige, 31 Staatspräsidenten, 22 Premiers und 47 Außenminister, dazu Prominente, die längst ins Pantheon der Weltpolitik aufgenommen wurden – Indira Ghandi, Margaret Thatcher, Willy Brandt und zahllose mehr.
In den 1980er Jahren wurde es ruhiger um die Grabstätte, Titos Grabmal verödete – keine Ehrenwache, wenige Besucher, darunter Titos Witwe, die an jedem 4. Mai mit Blumen kam. Draußen zerfiel Jugoslawien, und je mehr es zerfiel, desto schönere Hommages wurden für Tito inszeniert. In Serbien landete Goran Markovic 1992 mit „Tito und ich“ einen Filmhit: Der kleine Zoran gewinnt 1954 einen Wettbewerb um das schönste Tito-Gedicht, darf an einem Marsch in „Titos Heimat“ teilnehmen, wird von einem stets auf weißem Schimmel heranreitenden Tito aus den verrücktesten Kalamitäten gerettet und gesteht am Schluss dennoch: „Tito, ich habe Papa und Mama lieber als dich, auch den Genossen Johnny Weißmüller in der Rolle des Tarzan“. 1994 drehte Shelimir Shilnik seine witzige Montage „Tito abermals unter den Serben“, und 1999 zog der kroatische Kinoveteran Vinko Bresan mit dem Film „Marschall“ nach. In Slowenien hatte kurz zuvor der Schauspieler Ivan Godnic einen jahrelangen Erfolg mit seiner Livesendung „Klicemo duhove“ (Geisteranrufung), die über Radio Kranj lief: Hörer stellten auf slowenisch Fragen, die Godnic beantwortete – in Titos kroatischem Dialekt, mit dessen wunderbar imitierter Stimme und in jener legendären Drastik, zu der „Stari“ (der Alte) immer fähig war. Die Techniker im Studio lachten sich scheckig und die Hörer vergaßen, dass Tito schon zwölf oder mehr Jahre tot war.
Als in Bosnien der Krieg am schlimmsten tobte, kam Václav Havel nach Sarajevo. „Es war, als ob Tito gekommen wäre“, erinnerten sich noch Jahre später die Menschen, die ohnehin „Ti si Tito“ (du bist Tito) als größtes Kompliment vergaben. Selbst im Kosovo erinnern sich Albaner, dass sie unter Tito alles hatten, was ihnen heute fehlt: Autonomie, weltweite Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, „ein gutes Leben“.
In Slowenien, Kroatien und Makedonien haben junge Menschen zahlreiche „Tito-Gesellschaften“ und „Tito-Clubs“ gegründet. Und im serbischen Belgrad ist das „Blumenhaus“ – 1999 durch eine NATO-Bombe leicht beschädigt – nach Milosevics Sturz im Oktober 2000 zu neuem Leben erwacht: Der Marmor ist gewienert, die langen Glashallen funkeln, die Ehrenwache steht in blauer Paradeuniform. Und die Besucher kommen wie nie zuvor. Die meisten natürlich zu Titos Todestag am 4. Mai. Eintritt ist übrigens frei.
Den jüngsten Tito-Witz erzählt man sich derzeit in Bosnien: Die Schüler sollen einen Aufsatz schreiben „Vierzig Jahre Dunkelheit unter Tito“. Der kleine Perica ist nach drei Minuten fertig und geht. Verwundert liest die Lehrerin sein Werk, das nur einen Satz enthält: „Der Teufel hole den, der das Licht angeknipst hat…!“