Belarus

Leben mit Tschernobyl

„Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren", sagte Michail Gorbatschow am 5. Oktober 1989 auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld zu Erich Honecker. Durch eine etwas freie Übersetzung wurde aus dem Zitat das geflügelte Wort "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Zu spät kam auch Dmitrij Sasinjez, der unweit der 30-Kilometer-Sperrzone des Atomkraftwerks Tschernobyl alleine in seinem Heimatdorf zurückgeblieben ist. Kurz nach der Katastrophe habe es im Radio bloß geheißen, man solle den Deckel über den Brunnen schließen. Mehr nicht. Fünf Familien im Dorf, die gut informiert waren, hätten ihre Häuser noch rechtzeitig verkauft, erzählt der 72-Jährige. Erst am 14. Mai informierte Michail Gorbatschow detaillierter über den Unfall in Tschernobyl.

Vor drei Jahren ist Dmitrij Sasinjez auch noch die Frau gestorben, seine Kinder wohnen in der Stadt. Geblieben sind ihm seine zwei Hühner, die Kuh und der Stier, zwei Katzen und die greise Nachbarin Marie. Sie sei ein bisschen verrückt, sagt der 72-jährige Sasinjez mit einem Schmunzeln. Umzingelt von zerfallenden Holzbauten steht sein vom Wetter geschundenes Holzhaus wie ein letzter Rest Leben in der Einöde. Sasinjez freut sich über jeden Besucher und bittet gerne in die einfache Stube, die ein Holzofen wärmt und vom herben Geruch des einfachen Lebens erfüllt ist. An der Wand hängt ein Ikonenkalender, der Tisch ist mit allerlei Töpfen zugestellt und an einer Ecke hängt ein Netz mit frischem Quark. Sasinjez zeigt stolz seine wurmstichigen und runzeligen Äpfel. Er lebt von dem, was sein verseuchter Boden hergibt. Doch auch wenn ihn seine Kinder regelmäßig besuchen, möchte er hier weg: "Leben kann man hier, aber es fehlen mir die Menschen".

Sasinjez ist kein Einzelfall. Viele, vor allem alte Menschen, die ihre Region nach dem Reaktorunfall verlassen haben oder umgesiedelt wurden, kehrten wieder in ihre verlassenen Häuser und Dörfer zurück. Es ist eine ländliche Gegend um Tschernobyl, wo die Menschen eng mit der Natur und ihrem Boden verwurzelt sind. "Wo ist sie denn, diese Radioaktivität?", sagen sie sich. Man sieht sie nicht, riecht sie nicht und schmeckt sie nicht. Sie ist so unsichtbar wie der Tod.

In den radioaktiv verstrahlten Regionen, die rund 20 Prozent des Staatsgebiets ausmachen, leben aber nicht nur Menschen, die geblieben oder zurückgekehrt sind, sondern auch Einwanderer. Sie kommen oft aus Krisenregionen und finden in Belarus eine Oase der Ruhe. So auch Ludmilla Schubina und ihre Eltern, die als Russen in Kasachstan diskriminiert wurden. Die Familie kam 1997 nach Skorodnoje, ein Dorf mit 800 Einwohnern, 90 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Die Strahlung liegt hier ein Mehrfaches über dem europäischen Grenzwert. Da ihre Großmutter Russlanddeutsche war, hätte die Familie auch nach Deutschland ausreisen können, aber Ludmillas Vater wollte das nicht. In Skorodnoje hatten sie Verwandte. Die Eltern des Schwagers ihrer Mutter lebten hier. Die Sowchose stellte der Familie ein Haus zur Verfügung, Ludmilla erhielt Arbeit als Musiklehrerin im Kindergarten. Von der Radioaktivität wussten sie damals nichts, sagt Ludmilla. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft erkrankte sie und musste sich in Minsk behandeln lassen. Doch weg will die Mutter zweier Kinder nicht mehr: "Hier gibt es keinen Krieg, dafür Arbeit und Lohn. Was brauche ich mehr?"

Ähnlich denken auch Menschen, die in der Region geblieben sind, wie Galina Litwinenko. Die Krankenschwester arbeitet in Walawsk, dem Nachbardorf von Skorodnoje. Sie ist in der Ukraine aufgewachsen, ebenfalls in verseuchtem Gebiet. Angst habe sie keine vor der Radioaktivität, sagt sie. Jedes Jahr würden Leute aus Minsk kommen, die ihr im Garten angebautes Gemüse auf Radioaktivität kontrollieren. Galina hat einen Sohn und eine Tochter, die 1989 und 1990 geboren wurden. Ihr Immunsystem sei geschwächt, sagt sie und ihr Sohn sehe auf einem Auge schlecht. Eine Art grauer Star ist bei Jugendlichen in den verstrahlten Gebieten weit verbreitet. Galina betreibt in Walawsk eine kleine Ambulanzstation und macht auch Hausbesuche. Ihr Medikamentenschrank ist praktisch leer, die Einrichtung ist spartanisch und teilweise antiquiert. Aber die 36-Jährige will sich nicht beklagen: "Nur ein bisschen mehr Platz wäre schön." Besonders für die alten Leute im Dorf ist ihre Arbeit Gold wert. "Die jungen Leute gehen weg", meint die engagierte Krankenschwester.

Tschernobyl ist in jeder Familie, und praktisch kein Mensch ist gesund. Die Kinder nähmen alle Tabletten, meint Nadjeschda Leoniko, die Leiterin eines Kindergartens in Kriwtscha, unweit der 30-Kilometer-Sperrzone. Vor allem die Schilddrüsen seien entzündet. Was Radioaktivität ist, erfahren die Kleinen bereits aus Bildergeschichten in den Kinderbüchern. Im Moment hat Nadjeschda nur vier Kinder zu betreuen, die ganz aufgeweckt wirken: Ohne Berührungsängste suchen Katja und Tanja den Kontakt zu fremden Besuchern. Die Älteren sind im Sanatorium zur Erholung. Zweimal im Jahr wird in den verstrahlten Gebieten der Schulunterricht für drei Wochen in eine saubere Region in Belarus verlegt. Auch die 46-jährige Kindergärtnerin weiß, dass das Leben hier nicht gesund ist. Aber sie versucht ihr Gewissen mit einer verbreiteten Binsenweisheit zu beruhigen: "Die Leute, die weggehen, werden krank, weil ihr Organismus an die Strahlung gewöhnt ist."


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