Tschechien

Sudetendeutsches Kulturerbe im Internet

Mit der Website können beiderseits der Grenze Lücken in Geschichtsschreibung und Forschung geschlossen werden. Der Großteil der rund 145.000 Archivalien blieb nach dem Zweiten Weltkrieg in Tschechien. Andere Unterlagen gelangten mit den Vertriebenen nach Bayern.

Wissenschaftler können künftig online recherchieren

Im Staatlichen Bezirksarchiv im westböhmischen Cheb (Eger) zeugen über die Hälfte der Bestände vom einstigen deutschen Kulturgut. 500 Anfragen von Wissenschaftlern wie privaten Forschern erreichen die Institution pro Jahr. Ihnen will Leiter Karel Halla einen weiten und umständlichen Weg zur Einsichtnahme künftig ersparen. „Im Internet können die Dokumente kostenlos und in Ruhe von zu Hause aus angesehen werden“, so Halla. „Die Archivalien bei uns werden dagegen geschont.“

Der praktische Nutzen ist indes nur ein Grund für das grenzüberschreitende Projekt. Der 35-jährige Wissenschaftler gehört zu einer wachsenden Zahl junger Tschechen, die das verschüttete Wissen um die sudetendeutsche Kulturgeschichte wieder wachrufen möchten. Als außerordentlich wichtig empfindet Halla deshalb die geplante Online-Plattform, weil sie menschlichen Schicksalen und wertvollen Traditionen ein Forum gibt. „Wir bemühen uns, die Dokumente objektiv zu präsentieren“, erläutert der Archivleiter. „Jeder kann sich seine eigene Meinung dazu bilden.“

Kirchenbücher, Chroniken, Fotos werden digitalisiert

Im Original vorhanden sind in Westböhmen rund 11.000 Kirchenbücher mit Aufzeichnungen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis 1945. Sie werden ebenso eingescannt wie 1.758 Orts-, Schul- und Vereinschroniken. Digitalisieren wird man in Cheb außerdem 90.000 historische Fotos. Die Partner-Seite unter Federführung der Generaldirektion Bayerischer Archive in München will noch einmal 40.000 Aufnahmen und weitere Chroniken beisteuern. Eingegliedert werden sollen außerdem die beiderseits vorhandenen Unterlagen über das Kloster Waldsassen in der Oberpfalz.

Dessen Besitztümer lagen einst auf dem Gebiet des heutigen Tschechien. „Das Beispiel macht deutlich, wie irrelevant nationale Grenzen, in denen wir heute denken, bis ins 19. Jahrhundert waren“, sagt Dr. Michael Unger, Sachgebietsleiter für Forschungsprojekte bei der Generaldirektion.
In München ist man deshalb froh, sudetendeutsche Archivalien künftig in ihrem Gesamtkontext darstellen zu können. Die Zusammenarbeit mit den tschechischen Kollegen nennt Unger völlig unkompliziert. „Diese fachliche Kooperation hat es vorher nicht gegeben. Sie ist für beide Seiten ein Gewinn.“

Umgerechnet 385.000 Euro wird das gemeinsame nach Angaben von Karel Halla Projekt kosten. Es wird von der Europäischen Union finanziert. In Cheb hat man mit dem Scannen bereits begonnen. Rund ein Drittel der Kirchenbücher und Chroniken sind in Arbeit. Erste Ergebnisse könnten bereits Ende des Jahres ins Internet gestellt werden.


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