Rumänien

Aids-Waisen in Rumänien

Seit 15 Jahren lebt Marcel im Aidswaisenhaus in dem kleinen Dorf Vidra, rund 30 Kilometer von Bukarest entfernt. Der heute 18-Jährige war erst drei Jahre alt, als er mit dem HI-Virus bei einer Routineuntersuchung in einem staatlichen Krankenhaus infiziert wurde: Der Arzt hatte eine unsterile Injektionsnadeln benutzt. Weil seine Eltern sehr arm und mit der Situation überfordert waren, schoben sie ihn ins Heim ab. Seitdem haben sie ihren Jungen nie wieder besucht.

Marcel gehört zu einer ganzen Generation in Rumänien, die mit dem Virus in Krankenhäusern infiziert wurde, wobei besonders die Jahrgänge 1988 und 1989 betroffen sind. Schuld an den Infektionen war der damals aus ökonomischen Gründen noch übliche Gebrauch von Mehrwegspritzen, die Verwendung ungetesteter Blutpräparate und die weitgehende Unkenntnis über die Gefahren einer HIV-Erkrankung. Laut nationaler Aids-Bekämpfungskommission waren im Jahr 2004 rund 69 Prozent der Infizierten und 77 Prozent der an Aids Erkrankten Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Insgesamt waren im Jahr 2004 in ganz Rumänien 5.600 Menschen mit dem HI-Virus infiziert und rund 680 an Aids erkrankt.

Wie sehr das Thema Aids in Osteuropa immer noch tabuisiert und verdrängt wird, zeigt das Beispiel von Vidra. Hinter Stacheldrahtzaun und Eisengatter haben dort 24 HIV-infizierte Kinder, 12 Jungs und 12 Mädchen, ein neues Zuhause gefunden. Vom gesellschaftlichen Leben völlig ausgeschlossen, will man hier den Kindern und Jugendlichen einen strukturierten Tagesablauf vermitteln. Von 9 Uhr bis 12 Uhr ist Unterricht. Nach dem Mittagessen helfen die Kinder in der Küche oder Wäscherei, putzen ihre Zimmer, malen oder hören Musik.

„Es ist wichtig, dass Sie Aufgaben haben“, erzählt Monica Bârlodeanu, die Leiterin des Aidswaisenhauses, „ansonsten wüssten sie oft nichts mit sich anzufangen und können dann sehr aggressiv sein“. Der 18-jährige Marcel sucht sich beispielsweise immer irgendwelche Aufgaben. Leidenschaftlich gerne repariert er elektronische Geräte. Vor kurzem hat er zwei kaputte Kassettenrekorder in einzelne Teile zerlegt und daraus wieder einen funktionierenden gemacht. Manchmal wäscht er auch für ein paar rumänische Leu das Auto des Brotlieferanten – einer der wenigen Kontakte der Kinder mit der Außenwelt. Das verdiente Geld spart Marcel so lange, bis er sich einen Wunsch erfüllen kann. Der letzte war der Kauf eines neuen Fahrrads. Gerne möchte er später auf eine Fachschule für Elektrotechnik gehen. Doch es ist fraglich, ob eine Schule ihn aufnehmen wird, sobald sie von seiner HIV-Erkrankung hört.

Wer in Rumänien mit Aids infiziert ist, wird häufig wie ein Aussätziger behandelt. Im Heim stört das Marcel wenig: Der große schlanke Junge ist wegen seiner Fertigkeiten bei den anderen Kindern sehr beliebt und so etwas wie ihr Anführer.

„Im Haus herrscht leider eine starke Hierarchie“, erzählt Heidi Nitzsche. Die 24-jährige Sozialpädagogin kommt aus Callenberg, in der Nähe von Chemnitz. Vor einem Jahr entschied sie sich mit dem Internationalem Christlichen Friedensdienst „Eirene“ nach Rumänien zu gehen. Hier arbeitet sie eng mit der Nichtregierungsorganisation „Chance For Life“ zusammen, die sich seit dem Jahr 2000 um erkrankte und infizierte Kinder in Rumänien kümmert. So organisieren Mitarbeiter für die Heimkinder in Vidra Theaterprojekte, Fotokurse oder Ausflüge, auch der Besuch der Oper in Bukarest steht auf dem Plan. „Wir wollen sie damit vor allem aus ihrer Isolation herausbringen“, erklärt Heidi Nitzsche.

Derzeit unterrichtet die Sächsin einigen Jugendlichen Englisch bei, da sie mit Ihnen im Frühjahr an einem Internationalen Jugendaustausch in der Ukraine teilnimmt. So können sie über einen längeren Zeitraum das Waisenhaus verlassen und sich mit anderen Kindern austauschen - eine willkommene Abwechslung zu ihrem Heimleben, in dem Besuch selten ist. Kein Kind hat mehr Kontakt zu Mutter oder Vater, weil die seit der Infizierung mit ihren Kindern nichts mehr zu tun haben wollten.

Wie lange die 24 Kinder noch in Vidra bleiben können, ist ungewiss. Im Januar 2005 hatte die rumänische Regierung wegen des bevorstehenden EU-Beitritts beschlossen, in naher Zukunft alle staatlichen Waisenhäuser zu schließen, ohne Alternativen anzubieten. Eine Bedingung für den Beitritt in die Europäische Union ist aber auch, dass die Lebensumstände in den Heimen besser werden. „Chance For Life“ sucht deshalb drei Wohnungen, die von einer Art „Sozialmutter“ betreut werden sollen. Auch, um die Aidskinder wieder ein Stück weit in die Gesellschaft zu integrieren.


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