Vergiftete Kindheit
Gomel (n-ost) – Ich war damals elf. Es geschah plötzlich. Plötzlich explodierte die Geborgenheit, die Kindheit – das Leben wurde ernst und beherrscht von Angst.
Nach der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986 gingen etwa 70 Prozent der radioaktiven Niederschläge in Weißrussland nieder. Die meiste Strahlung aus dem explodierten vierten Reaktor des Kraftwerks kam, von den Regenwolken getragen, zu uns ins Gomeler Gebiet. Dieses Gift, das auf Russisch Radiazija heißt, konnte man zwar weder anfassen noch sehen noch riechen. Dennoch veränderte es unser Leben von Grund auf.
Plötzlich hörten wir von den Erwachsenen neue Wörter, die wir nicht verstanden: Radioaktivität, Cäsium, Becquerel ... Sie waren wie Zauberformeln, die eine Verwünschung hervorbrachten.
Jetzt, nach acht Jahren in Deutschland, weiß ich ihre Bedeutung: Laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit dürfen deutsche Kinder keine Milch trinken, die mit mehr als 370 Becquerel pro Liter belastet ist. Rund um Gomel hat man damals bis zu 2000 Becquerel pro Liter gemessen. Die Kontamination der Pilze lag bei bis zu 200.000 Becquerel pro Kilo. Jetzt weiß ich: Aus diesem Grund mussten wir damals hungern, besonders in den ersten Wochen nach der Katastrophe. Mutter öffnete damals ratlos die Küchenschränke, suchte darin nach alten, noch unverstrahlten Lebensmitteln und weinte. Täglich kämpfte sie sich durch die Schlangen am Einkaufszentrum, blieb stundenlang fern und kehrte zerknittert, zerkratzt mit leeren Taschen zurück. Jodtabletten waren sofort vergriffen, und sie versuchte etwas Fisch zu bekommen. – Es gab nichts. Nur jodhaltige Meeresalgen hatte einer verkauft.
Eine ernste Radiostimme gab uns im Auftrag des Gesundheitsministeriums Richtlinien vor; wir sollten trotz Strahlung die Illusion der Normalität bewahren. Wir folgten den Empfehlungen, schüttelten unsere Kleider aus, wischten die Schuhe, kochten das Wasser mehrmals ab und begriffen bald, dass die Normalität so unmöglich war. Ich bekam jedesmal Gänsehaut, wenn ich in einer weißen Mullmaske zu Schule ging und unterwegs den anderen maskierten, verhalten auftretenden (um keinen Staub aufzuwirbeln) Kindern begegnete.
Nach einigen Wochen gaben wir auf. Wie die meisten. Denn draußen war Sommer. Die Natur betörte mit ihrer Schönheit: Die Erde roch nach Fruchtbarkeit, samtige Blätter waren überall geschlüpft, die Apfelbäume in unserem Hof kleideten sich in zartes Rosa. Die Plage Strahlung war unsichtbar, und so spielten bald wieder Nachbarskinder im Sandkasten. Großmutter schickte uns einen Erdbeereimer aus ihrem Garten mit den Worten: „Wo ist sie, diese Radiazija? Es schmeckt doch!“ und wir aßen mit Appetit.
Währenddessen fing man an, Dörfer um Gomel herum zu evakuieren. Davon erfuhr ich erst in Deutschland. Heute bilde ich mir ein, ich hörte einen schmerzvollen Schrei sich in den Honigduft der Blüten mischen. Etwa hundertdreißigtausend Menschen mußten die Dörfer um unsere Stadt verlassen, doch Gomel selbst, die zweitgrößte Stadt Weißrusslands mit gut fünfhunderttausend Einwohnern blieb. Wie siedelt man fünfhunderttausend Menschen um?
Wir saßen fest, und wir saßen alle im selben Boot. Und ohne es öffentlich miteinander auszumachen, begannen wir gemeinsam ein Verdrängungsspiel. Keiner sprach mehr ein Wort von Tschernobyl. Man musste ja in dieser Stadt leben. Nach Möglichkeit taten wir so, als ob nichts gewesen wäre; wir sehnten uns nach einer normalen Wirklichkeit und versuchten, uns eine auszudenken.
Von jetzt an mussten wir uns jährlich in einem Krankenhaus untersuchen lassen. Wir Kinder marschierten dorthin klassenweise, und man tastete uns die immer dicker, immer störender werdenden Schilddrüsen ab. Die Anrufe und Einladungen von vielen Verwandten wurden seltener. Man sagte, wir würden „strahlen“, und wir drängten uns nicht auf. Damals wussten wir noch nicht, wie mächtig unser Gegenspieler war. Er kostete Menschenleben, er kostete uns unsere Gesundheit.
In Deutschland lernte ich später Menschen kennen, die versucht haben, die Wahrheit über Tschernobyl und über unser Leben herauszufinden. Solche wie Bernhard Meier. Er leitet Tschernobyl-Initiativen im Süden Bayerns und in Österreich. Dieser schleichende Tod habe ihn berührt, sagt er. Dieser unsichtbare, schwer abschätzbare Feind und die Menschen, die im damaligen sowjetischen Riesenreich auf wenig Unterstützung und Information hoffen konnten. „415 Siedlungen im Gomeler Gebiet wurden bis 1995 evakuiert“, erzählt er mir. „Erst heute, knapp zwanzig Jahre nach der Katastrophe, werden die gesundheitlichen Schäden klar. Dreißig Mal mehr Kinder in Weißrussland erkranken heutzutage an Schilddrüsenkrebs im Vergleich zu der Zeit vor 1986. Alle anderen Krebsarten sind auch drastisch gestiegen.“
Als Grundlage dient Meyer ein Bericht der World Health Organization. In diesem steht geschrieben: „Ein Drittel aller Kinder aus dem Gomeler Gebiet, die zur Tschernobyl-Katastrophe zwischen null und vier Jahre alt waren, werden im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken.“ Er sieht mich eindringlich an und fügt hinzu: „Es bedeutet, dass allein im Gomeler Gebiet rund fünfzigtausend Menschen sterben würden. Wenn man bei dieser Prognose andere Altersgruppen berücksichtigt, kommt man auf eine Zahl, die weit über hunderttausend liegt.“
„Ungeachtet anderer Krebsarten“, denke ich. „Hunderttausende“, denke ich. Mir ist eisig. Die Zahl ist keine tote Zahl für mich. Ich weiß, wovon er spricht. Im Haus meiner Eltern, im neunstöckigen Haus mitten in Gomel, ist fast auf jeder Etage jemand an Krebs gestorben. Als ich im vergangenen August meine Eltern in Gomel besuchte, erfuhr ich, dass unser Nachbar, der neunzehnjährige Slavik, an Leukämie gestorben war. Slavik, mit dem ich einen Sommer davor noch geplaudert hatte.
Einmal im Monat bekamen wir, die Menschen im Gomeler Gebiet, damals einen Zuschuss dafür, dass wir in der hoch verstrahlten Region lebten. Dieses Geld bezeichnete man im Volk „grobowyje“, zu deutsch Grabgeld. Früher hatte Mutter befürchtet, dass meine Schwester und ich keinen Ehemann finden würden, weil unsere Mitgift so klein war; von nun an sorgte sie sich ernsthaft darum, keiner würde uns heiraten, weil wir Tschernobyl-Kinder waren: „Tschernobylzy“.
So wuchsen wir auf und versuchten nicht daran zu denken, wie viel Cäsium 137 wir in den Knochen trugen, wie viele von uns starben. Nicht daran zu denken, dass die Strahlung, die unsere Kindheit und unsere Heimat vergiftete, allgegenwärtig war.
***
Ende
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