Ein paar Stunden Freiheit
Minsk (n-ost) - Umringt von Anhängern, Mitstreitern und Journalisten bahnt sich Oppositionskandidat Aleksandr Milinkewitsch mit seiner Frau den Weg zum Wahllokal in der Tschechowa-Straße im Zentrum von Minsk. Die Frau des Kandidaten, Inna Kulej, trägt einen weißen Mantel, eine Nelke in Rosa und – so wie ihr Mann – einen blauen Schal, das Zeichen der Oppositionsbewegung. Souverän beantwortet Milinkewitscht die Fragen der ausländischen Journalisten. Außer Russisch und Weißrussische spricht der Kandidat, der der polnischen Minderheit angehört, fließend Französisch, Polnisch und Englisch.
Milinkewitsch strahlt über das ganze Gesicht, so als habe er die Wahl schon gewonnen. „Unerwartet viele Menschen sind aktiv geworden“, berichtet der Kandidat. Das sei das „Ergebnis unserer Arbeit und der Erwartung in der Gesellschaft.“ Seit langem wollten die Menschen einen Wandel. Wichtiger aber als das offizielle Wahlergebnis sei der Wandel in den Köpfen. Im Wahlkampf habe man gelernt „über die Diktatur zu lachen und nicht zu Weinen.“ Das sei der eigentliche Erfolg.
Fast zur gleichen Zeit spielt Amtsinhaber Lukaschenko den Demokraten. Nach der Stimmabgabe erklärt er gegenüber Journalisten, er habe seine Stimme „dem einzigen würdigen Kandidaten der Opposition“ Sergej Gajdukewitsch gegeben. Gajdukewitsch spielte von Anfang an die Rolle des Vorzeigekandidaten der Macht. Lukaschenko erklärte außerdem George Bush sei der „Terrorist Nr. 1“ auf der Welt. Der weißrussische Präsident – der schon 1995 in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ Symphatien für Adolph Hitler äußerste – erklärte, er zähle sich nicht zu den letzten Diktatoren. „Ein Diktator im Zentrum Europas ist nicht möglich.“ Auf Straßenaktionen der Opposition werde man „adäquat“ reagieren.
Kalte Dusche
Am frühen Nachmittag kommt die erste kalte Dusche. Das staatsnahe Meinungsforschungsinstitut – „Junger soziologischer Dienst“ - meldet das Ergebnis seiner Exit-polls. Angeblich haben 83,5 % der Wähler für den Amtsinhaber Lukaschenko gestimmt und nur 2,5 Prozent für Oppositionskandidat Milinkewitsch. Oppositionskandidat Aleksandr Kosulin soll 2,1 Prozent der Stimmen bekommen haben und Sergej Gaidukewitsch – ein Vorzeigekandidat der Macht – für ihn hatte nach eigener Aussage auch Amtsinhaber Lukaschenko gestimmt – 2,6 Prozent. 9,3 Prozent simmten nach den Ermittlungen des offiziellen Dienstes mit ungueltig.
Dieses Ergebnis ist ganz nach dem Geschmack der Macht in Minsk, die schon lange vor der Wahl verkündet hatte, Lukoschenko werde über 70 Prozent der Stimmen bekommen. Die Umfrage des staatsnahen Instituts steht allerdings in krassem Widerspruch zu der Erhebung des russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, welches vor der Wahl 60 Prozent für Lukaschenko und 11 Prozent für Milinkewitsch ermittelt hatte.
Am Nachmittag meldet die Zentrale Wahlkommission eine Wahlbeteiligung von 81 Prozent. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2001, lag die Wahlbeteiligung angeblich bei 75%. Man müsse sich beim amerikanischen Außenministerium und der Opposition bedanken, hieß es es von Seiten der Wahlkommission. Die hätten durch ihren Druck die Weißrussen an die Urnen gebracht. Das Volk wolle sich nichts vom Ausland vorschreiben lassen.
Gläserne Wahlkabine
Als Milinkewitsch und seine Frau abstimmen, können alle Journalisten zugucken, denn die Wahlkabinen in der Mittelschule Nr. 166 sind zur Fensterseite hin offen, so dass jeder Interessierte von Außen den Wähler beobachten kann. Schwer zu begreifen was sich die Wahlkommission dabei gedacht hat. Vermutlich war es eine respektlose Geste vor den prominenten Wählern.
Dass die Kommissionen in den Wahlkreisen viel Spielraum beim Auszählen haben, ergaben Ermittlungen vor Ort. Gleich zwei Vorsitzende von Wahllokalen in der Schlafstadt Malinowka am südwestlichen Stadtrand – hier leben viele Umsiedler aus den von der Tschernoby-Katastrophe verseuchten Gebieten – weigerten sich gegenüber dieser Zeitung die exakte Zahl der Wahlberechtigten im jeweiligen Bezirk zu nennen. Nikolai Rubankow, Geschichtslehrer und Vorsitzender der Wahlkommission im Wahllokal Nr. 84 erklärte man habe „etwa 2000“ Wahlberechtigte. Dmitir Jaseptschik, Physik-Lehrer und Leiter der Wahlkommission im Wahllokal Nr. 76 erklärte sprach ebenfalls von „etwa 2000“ Wahlberechtigten. Die genaue Zahl könne man nicht nennen. Denn es komme häufig vor, dass sich Wähler, die nicht auf den Listen stehen, noch am Tag der Wahl registrieren lassen. Er halte es für möglich, dass sich 100 bis 200 Wähler am Tag der Wahl registrieren lassen, meint der Physiklehrer. In beiden Wahllokalen hatten bereits 20 Prozent der Wähler vorzeitig gewählt. Die Urne mit den Stimmen seien in einem Safe aufbewahrt worden, erklärte Geschichtslehrer Rubankow, der nicht vergaß den deutschen Lesern einen Gruß auszurichten. „Belarus ist gekränkt darüber, wie man uns in Westeuropa behandelt“.
Angst vor Schüssen
Die Situation in Minsk ist angespannt. Aus allen Teilen des Landes werden Spezialeinheiten in die Hauptstadt geholt, berichtete Oppositionskandidat Milinkewitsch am Sonntag. Bereits Mitte der Woche hatte Stepan Suchorenko, der Chef des weißrussischen KGB, erklärt, alle die sich am Sonntag Abend in Minsk auf der Straße versammeln, würden als „Terroristen“ angesehen. Einige Vertreter der Macht versuchten diese Aussage im Nachhinein abzuschwächen. Der Aufruf von Oppositionskandidat Milinkewitsch zu der Versammlung auf dem Oktjabr-Platz sei „natürlich“ noch kein Terrorismus, er bereite aber den Boden dafür.
Der KGB-Chef hatte behauptet, Aufrührer wollte Brände und Bomben legen und in Folge des Chaos dann gewaltsam die Macht im Staat ergreifen. Am Sonnabend, auf einer Kundgebung vor dem Kinotheater Kiew, berichtete Oppositionskandidat Milinkewitsch vor 300 Menschen, die Methoden, mit denen die Macht Angst verbreitet. Es seien Flugblätter im Umlauf mit Parolen wie „Belgrad-Kiew-Minsk, wir ergreifen die Macht“. Mit solchen Fälschungen solle die Oppositionsbewegung als gewalttätig diskreditiert werden. Am Sonnabend bekamen zudem Zehntausende Kunden des Mobilfunkbetreibers Velcom folgende SMS von einem unbekannten Absender. „Auf dem Oktjabr-Platz bereiten Provokateure eine Blutvergießen vor. Schütze Dein Leben und Deine Gesundheit.“ In den Kreisen der Opposition ist man sich sicher, dass die SMS zur Einschüchterungskampagne der Sicherheitsorgane gehört. Doch man will trotzdem gegen die erwarteten Wahlfälschungen demonstrieren. Wenn der Oktjabr-Platz abgesperrt sei, werde man sich „woanders einen ruhigen Platz suchen, wo man uns nicht verfolgt,“ erklärte Milinkewitsch. Der Kandidat erklärte, er werde selbst unter den Demonstranten sein. Demonstranten die Gewalt anwenden, selbst wenn es Leute aus dem demokratischen Spektrum seien, werde man sofort der Polizei übergeben. Nur so – meint der Oppositionskandidat - könne man sich vor staatlichen Provokateuren in Zivil schützen.
Blaue Haarbänder
Am Sonnabend Abend löste sich die Angst für ein paar Stunden. Die Opposition veranstaltete auf dem Bangalor-Platz im Stadtzentrum ein Rock-Konzert. Kurz vor dem Platz, wo die Musikgruppen auftreten, holten die Jugendlichen ihre blauen Schals und Haarbinden aus den Taschen. „Wenn ich das in der Stadt trage, bekomme ich Ärger und werde wegen Hooliganismus festgenommen“, erklärt Oleg. Unter den 5.000 Jugendlichen stehen kräftige junge Männer, die mit unbeteiligtem Gesicht das Geschehen überwachen. Der Moderator, ein junger Mann mit Cowbow-Hut warnt vor Provokationen. Auf dem Platz herrscht strenges Alkoholverbot. Nur die blau-weiße Fahne Weißrusslands – Anfang der 90er Jahre war es die offizielle Fahne, dann wurde sie zur Fahne der Opposition und verboten – schwenken die Jugendlichen wie wild über den Platz.
„Ty ne tschakai, tschakanje dastala.“ „Warte nicht – es reicht mit dem Warten“. Tausende Jungendliche brüllen den Refrain der Rock-Gruppe N.R.M. mit. Keine der auftretenden Gruppen werden im Radio gespielt. Die meisten verdienen ihr Geld mit Auftritten in Polen oder den baltischen Ländern. Aber die Songs kennen die Jugendlichen alle auswendig.
Man singt auf Weißrussisch. Die vom Staat gegenüber dem Russischen vernachlässigte Sprache hat sich über Jahre zur Sprache der Opposition entwickelt. Manche Lieder sind ironisch-witzig, so etwa wenn der Sänger von „Krama“ singt „chawaisja w bulbu“ („versteck Dich in den Kartoffeln“) oder die Sängerin Kasia Kamoskaya schmettert „Präsident, geh nach Hause.“ Für ein paar Stunden ist die Angst verflogen. Zum Schluss meint, der Moderator, „schlaft Euch gut aus“, der nächste Tag werde anstrengend. Doch man ahnt, dass auch am nächsten Tag das Tor zur langersehnten Freiheit noch nicht aufgestossen wird.