Das Leben des Karl Dedecius
Frankfurt (n-ost) - „Theo, wir fahr´n nach Lodz“... An diesen Schlager, der nicht etwa von Vicky Leandros sondern noch aus dem Ersten Weltkrieg stammt, erinnert der Übersetzer Karl Dedecius in seinem neuesten Buch, das diesmal nicht vorrangig der Literatur, sondern ihm selbst gewidmet ist: Die Erinnerungen eines „Europäers aus Lodz“. Der Schlager mit seiner bewegten Geschichte symbolisiert für Dedecius die Geschichte Mitteleuropas, vor allem Deutschlands und Polens – den zwei Polen seines Lebens.
Karl Dedecius ist hierzulande der wichtigste Übersetzer polnischer Lyrik und gleichzeitig der verdienstvollste Vermittler polnischer Kultur im deutschsprachigen Raum. Er ist Gründer des bekannten Polen-Instituts in Darmstadt, das er von 1980 bis 1999 leitete. In Slubice, der Zwillingsstadt von Frankfurt/Oder, befindet sich im Collegium Polonicum das umfangreiche Karl-Dedecius-Archiv und mit dem von der Robert Bosch Stiftung geförderten Karl-Dedecius-Übersetzerpreis werden deutsche Übersetzer polnischer Literatur und polnische Übersetzer deutscher Literatur jährlich prämiert.
Am 20. Mai wird Dedecius, der 1921 als Sohn deutscher Eltern im polnischen Lodz zur Welt kam, 85 Jahre alt – höchste Zeit für eine Biographie, wie seine Freunde und der Suhrkamp-Verlag meinten. Dedecius selbst hatte eine Autobiographie nie in Planung. „Ich halte mein Leben für nicht interessant genug“, sagt er. Doch er ließ sich überzeugen und geriet in ein seltsames Dilemma. Er, der gewohnt ist, stundenlang über die Literatur und das Leben „seiner“ Autoren zu sprechen, tat sich schwer, das Selbsterlebte in Worte zu fassen: Schmerzhafte Erfahrungen aus den Kriegsjahren überlagerten die Erinnerungen an die glückliche Kindheit und Jugend in der Vielvölkerstadt Lodz. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Dedecius nach dem deutschen Überfall auf Polen zunächst in den Reichsarbeitsdienst später in die Wehrmacht eingezogen. 1943 geriet er in Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1950 zurückkehrte.
Wer Dedecius kennt, der wird sich nicht wundern, dass es die Literatur ist, die ihm ermöglichte, seine Autobiographie trotzdem zu verfassen: Die Tagebücher Robert Musils öffneten für ihn das Tor in die Vergangenheit, die „in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs“ unwiederbringlich verloren gegangen schien. „Hier fällt mir das Buch aus der Hand“, schreibt Dedecius am Anfang seiner Erinnerungen. Von hier an aber will der Leser das Buch bis zum letzten Wort in der Hand behalten.
Für diejenigen, die beim Stichwort ‚Botschafter polnischer Kultur’ sofort an Dedecius denken ist es die erste Möglichkeit, den privaten Dedecius kennen zu lernen. Für alle, denen der Name Karl Dedecius noch nichts sagt, ist es die ideale Einführung in sein Leben und Werk. Das Buch handelt nicht nur vom Leben eines der größten Übersetzer osteuropäischer Literatur ins Deutsche, es ist auch ein kleines Kompendium der polnischen Literatur und wichtiger Episoden der polnischen und der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden.
Sein ganzes Leben hat er im Dienst der Völkerverständigung und Literaturvermittlung gestellt. In Gefangenschaft brachte er sich die russische Sprache selbst bei, übersetzte Bücher von Lermontov und entdeckte die heilende Kraft der Literatur und der Sprache. Nach seiner späten Rückkehr zunächst in die DDR und 1952 nach Westdeutschland begann er ein zweites Leben, das ein Vierteljahrhundert lang eigentlich ein ‚Doppelleben’ war: Zum Broterwerb arbeitet Dedecius als Angestellter der Allianz-Versicherung; jede freie Stunde nutzte er hingegen um Gedichte zu übersetzen und neue Werkausgaben, Sammelbände und vor allem Anthologien für den deutschen Leser vorzubereiten.
Das Übersetzen polnischer aber auch russischer Lyrik ist seit über 50. Jahren seine Leidenschaft – Dichter wie Szymborska, Herbert, Milosz, Rozewicz wurden erst dank Dedecius in Deutschland bekannt (in Polen wurden sie zum Teil dank seinen Übersetzungen wiederentdeckt). Gleichzeitig ist der Autodidakt Dedecius, der sich die gesamte umfangreiche Literaturgeschichte Polens im Selbststudium angeeignet hatte (seine Studienpläne zerstörte der Krieg) ein renommierter Literaturwissenschaftler, Publizist, Essayist und ein bedeutender Herausgeber polnischer Literatur in Deutschland. Sein voluminöses Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts und die 50-bändige Polnische Bibliothek gehören zu den breitesten literarischen Editionen überhaupt.
Seine Autobiografie ist im besten Sinne ein unterhaltendes Buch. Dem Leser offenbart sich hier ein Leben wie die polnische Literatur selbst: poetisch und politisch zugleich. In seiner Tätigkeit als Literat und Herausgeber ließ sich Dedecius nie vereinnahmen. Für ihn war immer das literarische Talent „seiner“ Autoren entscheidend, nicht welche Weltanschauung sie vertraten. Er übersetzte und verlegte sie alle: Verbotene und von der kommunistischen Regierung Polens anerkannte Schriftsteller, Exilautoren und die, die im Lande geblieben sind, die von den Nazis und von den Sowjets ermordeten Dichter, genauso wie diejenigen, die sich zuerst von der Idee des Marxismus und Leninismus anstecken ließen, um sich von ihm danach enttäuscht abzuwenden. „In diesem Sinne halte ich mich für einen politischen Menschen“, sagt Dedecius.
Sein unabhängiges Denken bereitete ihm Schwierigkeiten in Polen wie in Deutschland – die kommunistische Regierung Polens sah in ihm einen Spion des Westens, konservative Deutsche beschimpften ihn wiederum für sein Interesse am kommunistischen Osteuropa. Doch die meisten sehen in ihm das Vorbild eines echten Europäers. Dieses Buch gibt dem Leser endlich die Möglichkeit, Karl Dedecius aus der Nähe zu betrachten und mit ihm auf eine einmalige, 400 Seiten lange Reise durch das alte und neue Europa zu gehen. Ein überaus empfehlenswertes Buch.
Karl Dedecius, Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen. Suhrkamp 2006. erscheint am 28. März 2006.
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