Wahlen in einem gespaltenen Land
Die Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag in der Ukraine war ein Jahr nach der „Orangenen Revolution“ ein wichtiger Stimmungstest - nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Menschen in Russland und Weißrussland, wo derzeit der Versuch einer Revolution nach ukrainischem Muster im Keim erstickt wird. Dass dies dem Regime von Alexander Lukaschenko wohl gelingen wird, hat neben dessen Brutalität sicherlich auch mit den Misserfolgen der orangenen Revolutionäre in Kiew zu tun.
Bereits seit Monaten liegt dort ausgerechnet die „Partei der Regionen“ des ehemaligen Ministerpräsidenten und Anti-Revolutionärs Wiktor Janukowitsch in den Umfragen vorne. Die orangene Bewegung hat sich im Laufe eines Jahres zerstritten: Präsident Wiktor Juschtschenko wurde kürzlich in einem Fernsehinterview gebeten etwas Positives zu nennen, was Julia Timoschenko während ihrer Zeit als Ministerpräsidentin zwischen Januar und September 2005 erreicht habe. Juschtschenkos Gesicht verhärtete sich. Sekunden verstrichen. Schließlich sagte er: „Ich dämpfe meine Gefühle, damit ich sie zügeln kann.“ Das war alles.
Der von Juschtschenko für 2008 angestrebte Beitritt seines Landes in die NATO wird von der Bevölkerung überwiegend abgelehnt. In drei Umfragen politisch unterschiedlich ausgerichteter Meinungsforschungsinstitute stimmten dem Ziel nur 15 bis 20 Prozent der Ukrainer zu. Dagegen gibt die Mehrheit der Bevölkerung einer Kooperation mit den GUS-Ländern im Bereich der Sicherheit und der Wirtschaft den Vorzug. Der beliebteste Politiker der Ukraine ist seit Jahren – der russische Präsident Wladimir Putin. Das Wirtschaftswachstum in der Ukraine ist von zwölf Prozent im Jahre 2004 auf zwei Prozent im Jahre 2005 geschrumpft, die Investitionen sind noch steiler gefallen. Das Ausmaß der Korruption in der Ukraine übertrifft selbst das russische Niveau.
Gemessen an dieser Ausgangsposition konnten die „Orangenen“ bei den Palamentswahlen noch ein überraschend gutes Gesamtergebnis erzielen. Nach Auszählung von einem Drittel der Wahlzettel errang die „Partei der Regionen” Janukowitschs 26,8 Prozent der Stimmen, der „Block Timoschenko” liegt bei 23,6 Prozent und die Partei „Unsere Ukraine” des Präsidenten Juschtschenko erreichte 16,5 Prozent. Das endgültige Resultat wird erst am heutigen Dienstag verkündet.
Der Ostukrainer Janukowitsch konnte zwar auf die zahlreiche Misserfolge der Ex-Revolutionäre verweisen, und er besitzt in den russischsprachigen Regionen weiterhin einen starken Rückhalt, verfügt jedoch über kein mitreißendes soziales und ökonomisches Programm. Die „Partei der Regionen” ist weiterhin vor allem eine Interessenvertretung ostukrainischer Oligarchen. Selbst Janukowitschs Ankündigung, der russischen Sprache einen offiziellen Status zu verleihen, wurde eher skeptisch aufgenommen. Mit diesem Slogan gingen und gehen verschiedene Politiker bereits seit 15 Jahren in der Ukraine auf Stimmenfang – passiert ist bis heute wenig. Janukowitsch mangelt es an einer glaubwürdigen Vision für das Land. Dieses Manko haben auch die US-amerikanischen Ratgeber nicht ausgleichen können, die er für diese Wahl engagiert hat.
Julia Timoschenko dagegen besitzt visionäre Kraft. Sie will die Revolution weiterführen, Eigentumsverhältnisse neu ordnen und Schuldige für krumme Privatisierungsdeals strafrechtlich zur Verantwortung ziehen. Die ukrainische „Jakobinerin” besitzt Charisma, und ihre Verwicklung in verschiedene Korruptionsaffären - sie ist eine der wohlhabendsten Ukrainerinnen - lässt sie durch ihren Angriffsgeist ins Leere laufen. Timoschenko wurde wegen ihrer glaubwürdigen Ankündigung Sozialausgaben beträchtlich zu erhöhen auch für (potenzielle) Modernisierungsverlierer wählbar, anders als die Partei des Präsidenten, die eher klassisch liberale Positionen vertritt.
Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko, die zerstrittenen Revolutionäre, haben bereits am Montagmorgen Gespräche über die Bildung einer Koalition aufgenommen, die auch die “Sozialistische Partei” umfassen soll, die derzeit bei acht Prozent der Stimmen rangiert. Diese Koalition würde über eine Mehrheit verfügen. Janukowitschs „Partei der Regionen” ist jedoch so stark geworden, dass ein NATO-Beitritt wohl auf unabsehbare Zeit verschoben ist. Für eine EU-Mitgliedschaft gilt dies ebenfalls.
Eine weitere Möglichkeit im Koalitionspoker ist ein Zusammengehen von Juschtschenko und Janukowitsch, über das in den vergangenen Wochen bereits viel spekuliert wurde. Dies käme zwar einem Verrat an den Idealen der Revolution gleich, könnte aber die Ukraine, die auch bei diesen Wahlen wieder zwischen dem russlandfreundlichen Osten und dem EU-orientierten West geradezu zerrissen ist, in ruhigeres Fahrwasser führen.