Gefangenentransporter auf dem Oktoberplatz
Moskau (n-ost) - Im Dunkel der Nacht fuhren Gefangenentransporter auf den Oktoberplatz in Minsk. Die Polizei bildete einen Ring um die Demonstranten. Über die Zahl der Demonstranten zu diesem Zeitpunkt gibt es unterschiedlich Angaben. Zwischen 200 und 500 meist Jugendliche Demonstranten sollen sich auf dem Platz befunden haben. So begann Freitag um drei Uhr früh die Räumung des Zeltlagers. Seit Dienstag früh hatten auf dem Platz Tag und Nacht ununterbrochen Menschen gegen das offizielle Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl vom Sonntag demonstriert, wonach der Amtsinhaber Aleksandr Lukaschenko mit 82 Prozent der Stimmen siegte. Die Opposition spricht von einer Fälschung und fordert eine Wiederholung der Wahl.
Nach der Umzingelung forderte die Polizei die Journalisten auf, aus dem Kessel zu kommen. „Lasst uns nicht alleine“, rief eine Frau. Dann begannen Polizisten in schwarzen Overalls die Demonstranten in die Gefangenentransporter abzuführen. Niemand leistete Widerstand. Manche ließen sich wegtragen. Gummiknüppel wurden nicht eingesetzt. Anderen Angaben zufolge wurde gegen einzelne Personen Gewalt angewandt. Der Leiter der Aktion erklärte alle 30 Sekunden über Megaphon „Keine grobe Gewalt, keine Beleidigungen“. Doch die Menschenrechtsorganisation Charta 97 berichtete in den Bussen sei von den Polizisten ein weißes Gas gesprüht worden.
Unter den Festgenommen waren auch Bürger aus Litauen, der Ukraine, Russland sowie ein Kamerateam des georgischen Fernsehens. Unter den Verhafteten befand sich außerdem der ehemalige polnische Botschafter in Minsk, Marius Maszkewicz, der 20jährige Sohn des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Milinkewitsch, sowie zwei jugendliche Verwandte des ex-Präsidentschaftskandidaten Aleksandr Kosulin. Am Freitag Vormittag wurden alle Minderjährigen freigelassen.
Die Festgenommen sollen nach offizieller Mitteilung wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Kundgebung angeklagt werden. Milinkewitsch versprach den Festgenommen Rechtsbeistand. Die Mittel dafür seien vorhanden.
Zugeschweißte Toilette
Die Macht hatte in den letzten Tagen alles unternommen, um den Demonstranten den Aufenthalt auf dem Oktober-Platz zu erschweren. Die Beleuchtung war ausgeschaltet worden, alle 24-Stunden-Bars und -Cafes hatte man geschlossen. Ein Siel auf dem Platz, welches die Jugendlichen unter dem Schutz eines Zeltes als Toilette benutzten, war von der Stadtreinigung zugeschweißt worden. Die Aufstellung von Biotoiletten wurde behindert.
Die Kommentare auf die Räumung fielen extrem unterschiedlich aus. Während Oppositionsführer Aleksandr Milinkewitsch, von „Banditismus“ sprach und erklärte, „in einem europäischen Land ist so etwas unzulässig“, machte der russische Außenminister Sergej Lawrow, der Beobachtergruppe der OSZE den Vorwurf, sie habe die Demonstranten aufgestachelt. Schon vor der Wahl habe die OSZE die Wahlen für nicht legitim erklärt. Russland sei nicht in die Gruppe zur Langzeitbeobachtung der Wahlen beteiligt worden.
Oppositionskandidat Aleksandr Milinkewitsch wiederholte seine Forderung nach einer Wiederholung der Wahl. Es müsse nach internationalen Standards gewählt werden. Der Oppositionsführer erklärte, man halte an dem Aufruf zu einer Demonstration am
(Sonnabend) auf dem Oktoberplatz fest. Wenn man nicht auf den Platz komme, werde man sich an anderer Stelle versammeln. Die Aktion habe „keinen politischen Charakter“. Sie ist dem Tag der Gründung der Republik Weißrussland gewidmet. 1918 existierte für einige Monate das erste Mal in der Geschichte eine Weißrussische Republik. Nach dem Bürgerkrieg in Russland wurde Weißrussland 1922 Teil der Sowjetunion.
Milinkewitsch erklärte, er sei stolz auf die Demonstranten. Sie hätten mit dem Zeltdorf etwas geleistet, wozu „eine ganze Generation von Politikern nicht in der Lage war“. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat forderte die internationale Öffentlichkeit auf, sich für die Freilassung der Gefangenen einzusetzen. Wenn Russland sich nicht für die Festgenommen einsetze, „stößt es das zukünftige Weißrussland von sich“, erklärte der ex-Kandidat.
Milinkewitsch erklärte, er unterstütze die geplanten Sanktionen der USA und der EU.
Die weißrussische Opposition hat in den letzten zehn Jahren viel Erfahrung mit unerlaubten Demonstrationen gesammelt. Jetzt, wo die internationale Öffentlichkeit die Ereignisse in Weißrussland verfolgt, scheint der Versuch noch einmal auf die Straße zu gehen, nicht völlig aussichtslos. Erschwerend ist jedoch, dass es im Oppositionslager einen Riss gibt. Der zweite Präsidentschaftskandidat der Opposition, Aleksandr Kosulin, erklärte, es sei zweifelhaft, ob nach der Räumung des Zeltlagers noch eine Großaktion gelingt.
Auf die Räumung des Zeltlagers reagierte Kosulin überraschend zurückhaltend. Er erklärte, die Räumungsaktion sei die bisher „delikateste Operation der Polizei bei der Auflösung von Großaktionen“ gewesen. Normalerweise werden Demonstration in Weißrussland mit dem Polizeiknüppel aufgelöst. Am Freitag beschloss die EU aus Protest gegen die Wahlfälschungen neue Sanktionen gegen Weißrussland.
Der Kreis der weißrussischen Beamten, die nicht nach Europa reisen dürfen, soll ausgeweitet werden. Das Einreiseverbot gilt jetzt auch für Präsident Aleksandr Lukaschenko. Der Antrag auf die Sanktionen war von Tschechien, der Slowakei, Polen, den baltischen Staaten, Dänemark und Schweden eingebracht worden.
Ende
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