Das Geschäft mit der Hoffnungslosigkeit
Zielona Gora (n-ost) - Es ist ein eisiger Montag Mitte März. Kurz nach 10.00 Uhr fährt ein LKW mit polnischem Autokennzeichen an den deutsch-polnischen Grenzübergang bei Guben heran. Der LKW-Fahrer informiert die polnischen Zollbeamten, dass er in seinem Laster Möbel transportiert. Doch die Zollbeamten wollen sich die Ladung genau ansehen und öffnen den Laderaum. Dort entdecken sie zwischen den Möbeln zwanzig versteckte Menschen. Für 20 Osteuropäer und Asiaten aus der Russischen Föderation und Vietnam endet damit die Reise in den erträumten goldenen Westen.
Derartige Fälle sind hier keine Seltenheit, wären da nicht die drei hochschwangeren Frauen, die sich unter die 20 Flüchtlinge gemischt haben. Bei einer der Frauen haben die Wehen bereits eingesetzt. Es handelt sich um die 18-jährige Ayshat – Tschetschenin aus der Republik Dagestan in der Russischen Föderation. Die Frau wird sofort in das polnische Krankenhaus in Gubin gebracht. Dies rettet ihr und dem Kind das Leben. Denn der kleine Junus liegt falsch herum im Bauch. Er kommt mit den Beinen zuerst und kann nur mit Hilfe eines Kaiserschnitts von den Ärzten gerettet werden. Ayshat hat Glück im Unglück. Ihr 60 Zentimeter langer Junge bringt 3800 Gramm auf die Waage und ist dank der ärztlichen Hilfe kerngesund.
Eigentlich sollte Junus als Franzose auf die Welt kommen – so versprach es der Menschenschmuggler, dem Ayshats 32-jähriger Ehemann Ruhmat 2000 Dollar für die illegale Reise nach Deutschland bezahlt hat. Auch die anderen beiden hochschwangeren Asylbewerberinnen wurden in Polen mit dem Versprechen gelockt, dass ihre Kinder automatisch die französische Staatsangehörigkeit bekommen, wenn sie in Frankreich entbinden. Nach Angaben der französischen Botschaft in Warschau handelt es sich dabei um eine Falschinformation. Kinder von Emigranten erhielten nur dann automatisch die französische Staatsbürgerschaft, wenn zumindest ein Elternteil den französischen Pass besitze.
Drei Tage nach der Geburt liegt die hübsche, traurige Dagestanerin mit den langen braunen Haaren teilnahmslos in ihrem Bett im Gubiner Krankenhaus. Sie liegt hier in einem fremden Land mitten unter unbekannten Menschen. Sie führt nichts bei sich, keine eigenen Sachen, keine Dokumente. Ihr Körper muss nach dem Kaiserschnitt mit Bluttransfusionen versorgt werden. Ayshat ist ganz schwach und hat viele Schmerzen, nicht nur im Körper, auch in der Seele. Seitdem man sie in dem Laster gefunden hat, hat sie ihren Ehemann, der ihr einziger Beschützer war, nicht mehr gesehen. Sie weiß nicht wo er ist, sie hat keine Ahnung was mit ihr und dem Kind weiter passiert. Mit den Krankenschwestern kann sie sich nicht verständigen, denn keiner versteht hier ihre Sprache und ihre Mentalität.
Ayshat rührt kein Essen an, ernährt sich nur von Tee und Zwieback. Keiner weiß, dass sie Muslimin ist. Die Gubiner Krankenschwestern haben sowieso keine Erfahrungen mit den kulturellen Regeln des Islam. Zum Mittagessen in Polen gibt es häufig Schweinefleisch. Auch die Grenzschützer wunderten sich, als Ayshats Ehemann Ruhmat sich weigerte, mit ins Krankenhaus zu fahren und sich lieber verhaften ließ. Der Muslim wollte aus religiösen Gründen der Geburt fernbleiben.
Ruhmat stammt wie seine 18-jährige Frau Ayshat aus Dagestan, einer Republik zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus, die zu Russland gehört. Sie lebten in der 120.000-Einwohnerstadt Chassawjurt. Die Stadt liegt im Westen von Dagestan nahe der Grenze zu Tschetschenien. Tschetschenische Kriegsflüchtlinge haben in den letzten 15 Jahren zu einer Verdoppelung der Stadtbevölkerung geführt. Ruhmat und Ayshat fanden keine Arbeit, wohnten im Haus ihrer Eltern, die ihre Hochzeit nach religiösen Sitten und Bräuchen arrangiert haben. Vor zwei Monaten machten sie sich auf die lange Reise nach Polen.
Dort stellten sie einen Asylantrag. Ayshat gefiel es im Asylbewerberheim in Bialystok an der Ostgrenze Polens. „Wir hatten dort eine kleine Wohnung. Viele Freunde und Bekannte. Ich wollte eigentlich nicht weg“, erzählt sie. Doch ihr Mann verlor die Geduld, wollte nicht länger auf die Aufenthaltsgenehmigung warten und ließ sich auf das Abenteuer mit dem Menschenschmuggler ein.
Ayshat spricht leise, blickt ins Leere. Der Traum vom Leben in Frankreich ist geplatzt. In Junus Geburtsurkunde steht unter der Rubrik Staatsangehörigkeit jetzt: Republik Dagestan - Russische Föderation. Die kleine Familie muss jetzt weiterhin auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten. Aber die Chancen sind wegen der Flucht aus dem Asylantenheim und dem versuchten illegalen Grenzübertritt nur noch gering.
Ayshats Mann wurde vier Tagen nach der Geburt von Junus freigelassen. Er holte Ayshat und seinen kleinen Sohn aus dem Gubiner Krankenhaus ab. Immerhin können sie sich frei in Polen bewegen und dürfen auch in das Asylbewerberhaus in Bialystok zurückkehren. Wohin aber genau ihre Reise gehen wird, weiß niemand.
Der polnische Grenzschutz hat allein an der Grenze zum Bundesland Brandenburg seit Jahresbeginn mehr als 200 Menschen aufgegriffen, die illegal nach Deutschland einreisen wollten. 93 von ihnen waren auf Lastern versteckt. Diese Zahl, die deutlich über der des Vorjahres liegt, sei der Hauptgrund, weshalb die polnischen Grenzbeamten ihre Kontrollen an der Grenze seit einigen Wochen verschärft haben. Es wäre kaum verwunderlich, wenn ihnen Ruhmat und Ayshat bald wieder begegnen.
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