„Ein Roman ist für mich eine Art Droge“/ Interview mit der ukrainischen Schriftstellerin Oxana Sabuschko
Die Ukrainerin Oxana Sabuschko gilt als die Schriftstellerin, Dichterin und Essayistin der modernen ukrainischen Literatur. Internationale Erfolge feiert sie derzeit mit dem Buch „Feldstudien über ukrainischen Sex“. Dieser Roman wurde pünktlich zur Leipziger Buchmesse auch ins Deutsche übersetzt. In Leipzig repräsentiert Oxana Sabuschko derzeit zusammen mit ihren Schriftstellerkollegen Kurkow und Andruchowitsch die Ukraine als Gastland der diesjährigen Buchmesse. Gleich im Anschluss an die Buchmesse geht Oxana Sabuschko auf eine Lesereise durch Österreich, während der sie Graz, Innsbruck, Linz und Wien besucht. Mit Oxana Sabuschko hat unsere Mitarbeiterin Tatjana Montik gesprochen.
Frau Sabuschko, in Ihrem Buch, „Feldstudien über ukrainischen Sex“ erzählen Sie die Geschichte eines ukrainisches Liebespaares, das es weit in die Fremde verschlagen hat. Woher stammt die Idee zu diesem Sujet?
Sabuschko: Ich habe in den 90er Jahren als Fulbright-Stipendiatin und Gastprofessorin an den Universitäten von Harvard, Yale und Pittsburg unterrichtet und mich längere Zeit in Amerika aufgehalten. Ohne meine amerikanische Erfahrung wären „Die Feldstudien“ nicht möglich gewesen. Amerika – das ist die Quintessenz des westlichen Geistes, ein reiner Geist ohne die Jahrtausende alten kulturellen Schichten, auf die man in Europa unentwegt stößt. Ich fand es faszinierend, vor dem amerikanischen Bühnenbild eine ukrainische Love-Story sich entwickeln zu lassen. Meine Helden, zwei junge Ukrainer, kommen sich in Amerika vor wie von innen nach außen gestülpt und stets mit ihrer eigenen Identität konfrontiert. Der Selbstentfremdungseffekt war für mich in diesem Roman sehr wichtig.
Sie repräsentieren bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse Ihr Land, die Ukraine, die als diesjähriges Gastland im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Eine schwere Aufgabe?
Sabuschko: Endlich haben wir Ukrainer einen Staat bekommen, der weltweit von einem bestimmten Fernsehbild geprägt war – von unserer Revolution. Die Ukraine ist nicht mehr eine postsowjetische Republik mit einer dubiosen Vergangenheit und ebenso unverständlich-düsteren Gegenwart, geschweige denn Zukunft. Es ist eine junge Demokratie, die ihre Freiheit in einer farbigen Revolution errungen hat. Und obwohl jede politische Identifikation das Bild eines Landes grober macht, freue ich mich darüber! Früher schwammen wir ukrainischen Autoren wie Einzelteilchen in einem großen literarischen Meer, heute werden wir wahrgenommen. Und dieser Fokus nimmt uns viele psychologische Probleme von früher ab.
Sie haben die orange-farbenen Revolution in der Ukraine unterstützt. Sind nach einer Reihe von Fehltritten nun auch Sie persönlich vom Präsidenten Wiktor Juschtschenko und seiner Mannschaft enttäuscht wie so viele Ihrer Landsleute?
Sabuschko: Nein, keinesfalls. Denn unsere Revolution – es war das ukrainische Volk in seiner konzentrierten Quintessenz. Wir haben das größte Hindernis für unsere weitere Entwicklung überwunden – die Entfremdung des Volkes von der Macht. Bei den Bürgern hat sich eine neue Denkweise etabliert: Die Politiker vertreten mich, ergo habe ich über deren Taten zu urteilen. Machen sie es schlecht, werde ich sie nächstes Mal nicht wählen. Machen sie es gut, bin ich auf sie stolz. In diesem Sinne hat unsere Revolution ihre wichtigste Aufgabe erfüllt. Ich bin überhaupt zum ersten Mal stolz auf mein Land und auf meinen Präsidenten!
Frau Sabuschko, sind Sie genauso ein starker Charakter wie die Heldinnen Ihrer Romane?
Sabuschko: Ich gehöre nicht zu jenen Personen, die sich ihrem Leben anvertrauen und dann schauen, wohin sie das Leben tragen wird. Ich wähle selbst die Menschen aus, die mich umgeben. Ich gestalte meine Welt eigenständig. Dabei bin ich teilweise zu streng, immer anspruchsvoll und manchmal sogar autoritär.
Die Sprache Ihrer Prosa gilt als eine der kompliziertesten in der modernen europäischen Literatur. Warum wollen Sie in einem Satz so viel unterbringen wie andere Schriftsteller in zehn oder zwanzig?
Sabuschko: Mein Satzbau mag dem Leser wie ein Fluss vorkommen, der gleich über die Ufer treten würde. Doch in der Wirklichkeit habe ich diese Flüsse fest im Griff. Ich sammele diese Flüsse in eine Einheit, und das ergibt einen Strom. Nur so kann ich den Effekt eines durchgebrochenen Damms erreichen, den ich in meiner Prosa immer anstrebe.
Wie organisieren Sie sich beim Schreiben?
Sabuschko: Wenn ich eine Idee austrage und sie aufs Papier bringe, neige ich dazu, das ganze Leben um mich herum zu vergessen. Ich bewundere all jene Schriftsteller, die in der Früh oder so zwischendurch mal ein wenig schreiben und dann ihr ganz normales Leben mit Partys und gesellschaftlichen Events führen können. Für mich ist es absolut anders. Ein Roman im Entstehen ist für mich ein Lebewesen, und dieses Lebewesen sucht selbst nach Informationen für sich. Es diktiert mir zum Beispiel, was ich lesen, wohin ich gehen und mit wem ich sprechen soll. Ich ordne mich dem Schreibprozess vollkommen unter.
Wissen Sie immer im Voraus, wie Ihre Bücher ausgehen werden?
Sabuschko: Keinesfalls! Ich schreibe überhaupt nur aus einem Grunde: um zu erfahren, wie es mit meinen Helden weiter gehen wird. Zuerst habe ich ein Sujet, ein Thema, das mich interessiert, ein Rätsel, das ich zu erraten habe. Im Laufe des Schreibens laufe ich sozusagen mit einem Fackel in der Hand und beleuchte damit die dunkelsten Ecken einer Grotte. Auf einmal beginnt der Roman selbst, mich zu tragen – wie ein stürmischer unterirdischer Fluss, der selbst über die Richtung bestimmt. Der Roman wird zu einem selbst startenden Mechanismus, zu einer Art Droge. Wer eine solche Droge einmal erlebt hat, kann davon nicht mehr lassen. Denn beim Schreiben geht man über die Grenzen dessen hinaus, was man zu kennen glaubt. Das ist wie ein Horizont, das sich selbst einem gegenüber öffnet. Es ist, als würde man nicht selbst schreiben, sondern jemand führt für einen die Feder.
Wodurch unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die moderne ukrainische von der modernen russischen Literatur?
Sabuschko: Meine russischen Schriftstellerkollegen aus dem liberalen politischen Lager haben es ganz plastisch formuliert: In der modernen russischen Literatur sei der Ton einer ernsthaften Gesprächsführung abhanden gekommen. Dagegen ist in der Ukraine eine solche Gesprächsführung sehr gefragt. Denn unser Land hat eine Geschichte, die noch lange nicht verarbeitet ist. Nehmen Sie nur ein Beispiel Holodomor (Anm: die durch die kommunistische Führung in Moskau in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Ukraine künstlich erzeugte Hungersnot). Wir Ukrainer sind eine Nation, die über ihre größte Katastrophe des letzten Jahrhunderts 60 Jahre lang zu schweigen hatte! Wir sind eine Nation mit einem betäubten Gedächtnis. Und diese ganze Last des Nicht-Ausgesprochenen – sie gibt Impulse für die wirklich literarischen Werke.
Also ist in der Ukraine demnächst noch ein größerer literarischer Boom zu erwarten?
Sabuschko: Ich gehe davon aus, es wird bei uns ähnlich kommen wie einmal in Lateinamerika: Die sich angesammelten Energien werden in der ukrainischen Literatur zu einer Explosion führen. Und diese Explosion wird viele Sternfamilien erzeugen, die am Firmament der Weltliteratur wunderschön leuchten werden.