"Der Prozess war keinesfalls umsonst"
FRAGE: Frau Memisevic, Sie begleiten zahlreiche Vereinigungen von Kriegsopfern in Bosnien-Hercegovina. Wie reagierten diese auf den Tod von Slobodan Milosevic?
FADILA MEMISEVIC: Die „Mütter von Srebrenica“, die ihre Männer und Söhne verloren haben, die ehemaligen Lagerinsassen, die misshandelt wurden, und die Vertriebenen, von denen viele bis heute nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren konnten, empfinden Traurigkeit und bittere Enttäuschung darüber, dass es für Milosevic keine Gerechtigkeit vor dem Gesetz mehr gibt und er nicht rechtskräftig verurteilt werden kann. Das tut weh, viele Frauen haben geweint. Ich habe versucht, sie zu beruhigen und ihnen gesagt, dass es doch schon viel bedeutet, dass Milosevic überhaupt vor Gericht stand - wegen Völkermordes. Er musste vier Jahre lang Rechenschaft ablegen und war seit Mitte 2001 kein freier Mann mehr. Und am Schluss ist er einsam in seiner Zelle gestorben wie ein Hund.
FRAGE: War der endlos lange Prozess gegen Milosevic also nicht umsonst, auch wenn es kein Urteil mehr geben kann?
MEMISEVIC: Der Prozess war keinesfalls umsonst, auch wenn es nicht zu einem Richterspruch kam. Denn es haben so viele Opfer als Zeugen aussagen und vor den Augen der Weltöffentlichkeit berichten können, was sie erlebt haben. Alle Aussagen und Erkenntnisse aus dem Prozess sind in unzähligen Dokumenten festgehalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass es eine historische Gerechtigkeit für Milosevic und seine Machenschaften geben wird.
FRAGE: War es ein Fehler des UN-Kriegsverbrechertribunals, dass der Prozess gegen Milosevic so lange dauerte?
MEMISEVIC: Es war sicher falsch, dass das Tribunal es Milosevic erlaubt hat, sich im Prozess selbst zu verteidigen und diesen als politische Bühne zur endlosen Selbstdarstellung zu nutzen. Er wollte zeigen, dass seine Rolle in der Geschichte die eines Helden war, der alles unternahm, um sich der angeblichen internationalen Verschwörung gegen die Serben entgegenzustellen. Gleichzeitig war es aber wichtig, ein breites Spektrum an Anklagepunkten zuzulassen, denn Milosevic war ja für mehrere Kriege verantwortlich. Nur so hatten die Opfer die Möglichkeit, als Zeugen auszusagen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Milosevic geradezu eine „Tötungsmaschine“ war. Er hat die Idee eines Großserbien entwickelt und mit der Schaffung eines eigenständigen serbischen Territoriums innerhalb von Bosnien-Hercegovina, der Serbischen Republik, auch ein Stück weit umgesetzt - auf der Basis von Völkermord und Vertreibungen.
FRAGE: In verschiedenen Städten der Serbischen Republik trauerten viele Menschen öffentlich um Milosevic. Wofür sind ihm diese Leute dankbar?
MEMISEVIC: Die Serbische Republik wurde von Milosevic zusammen mit den beiden noch immer flüchtigen Kriegsverbrechern Ratko Mladic und Radovan Karadzic geschaffen - mit brutalsten Mitteln. Mit politischer Indoktrination, Propaganda und durch die Kontrolle über die serbischen Staatsmedien schaffte er es, dass die Menschen an ihn und seine Idee, alle Serben müssten in einem Staat leben, glaubten. Nach wie vor träumen viele Menschen in der Serbischen Republik davon, sich eines Tages Serbien anzuschließen. Karadzics „Serbische Demokratische Partei“ ist noch heute stärkste Kraft im Parlament der Serbischen Republik. Zudem herrscht ein Klima der Angst, die Menschen trauen sich oft nicht, ihre Meinung zu sagen. Aber gerade in Sarajevo leben viele Serben, die ganz anders denken und sich sehr kritisch über Milosevic äußern. Die Serben sind schon längst ebenfalls zu Opfern der serbischen Politik geworden.
FRAGE: Mladic und Karadzic sind weiterhin auf freiem Fuß. Glauben die Opfer der Kriegsverbrechen überhaupt noch daran, dass die beiden jemals vor dem Haager Tribunal stehen werden?
MEMISEVIC: Viele sind frustriert, haben die Hoffnung bereits aufgegeben. Ihre Wut richtet sich manchmal auch gegen das Haager Tribunal und Carla Del Ponte. Dann muss ich den Opfern erklären, dass Carla Del Ponte gar keine Möglichkeit hat, die Angeklagten verhaften zu lassen, sondern auf die Kooperationsbereitschaft der entsprechenden Staaten angewiesen ist. Die Verhaftung aller Kriegsverbrecher - auch jener, gegen die dann vor einem lokalen Gericht verhandelt wird - ist aber eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Vertriebenen in ihre früheren Wohnorte zurückkehren können. Denn wenn sie wissen, dass ihre Peiniger in Freiheit sind, fällt die Rückkehr noch schwerer als sie ohnehin schon ist. Bis heute sind rund 4000 Frauen nach Srebrenica und in die Dörfer in der Umgebung zurückgekehrt - fast immer alte, allein stehende Witwen. Jüngere Frauen mit Kindern kehren nur ganz selten zurück. Zahlreiche Überlebende von Srebrenica sind in der Zwischenzeit auch gestorben - ohne dass die Kriegsverbrecher gefasst worden wären.
FRAGE: Wie geht es den Überlebenden von Srebrenica, die in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt sind?
MEMISEVIC: Viele von ihnen leiden unter Armut und Elend, häufig sind sie auch Provokationen und Benachteiligungen ausgesetzt. Am schlimmsten ist die Situation für diejenigen, die bis heute auf ihre Männer und Söhne warten - auch wenn sie längst wissen, dass diese tot sind. Jetzt wollen sie wenigsten die sterblichen Überreste in Würde bestatten können. Sie wünschen sich sehr, wenigstens einen einzigen Knochen zu finden.
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