„Jeder zweite Weißrusse will einen Machtwechsel“
Minsk (n-ost) - Am 19. März finden in Weißrussland Präsidentschaftswahlen statt, in denen sich der amtierende Präsident, Alexander Lukaschenko, für eine dritte Amtszeit wählen lassen möchte. Diese Möglichkeit verschaffte er sich mit der Durchführung eines manipulierten Verfassungsreferendums. Die Fälschungen wurden damals durch Umfragen des Instituts für soziale, wirtschaftliche und politische Forschungen nachgewiesen. Das Institut wurde daraufhin verboten, doch die Wissenschafter führen ihre Arbeit privat fort. Unsere Autorin Tatjana Montik befragte den Direktor des Instituts, Oleg Manajew, zur Stimmung im Land vor den Wahlen.
Frage: Herr Manajew, wie ist es für Sie möglich, Ihre Erhebungen überall im Land durchzuführen? Werden Sie dabei nicht gestört?
Manajew: Natürlich ist es sehr schwierig. Beim letzten Exit-Poll (Anmerkung: Umfragen direkt nach Stimmabgabe) wurden viele unserer Interviewer durch die Polizei festgenommen. Wenn die politische Führung es sich zur Aufgabe macht, die Durchführung von unabhängigen Erhebungen zu stoppen, kann sie das machen. Doch vorläufig können wir arbeiten. Wir haben zurzeit rund 100 Interviewer aus etwa 50 Städten. Es sind Studenten, Lehrer, Geschäftsleute, Rentner und so weiter, die uns auf freiwilliger Basis helfen. Sie gehen von Tür zu Tür und machen die Umfragen.
Frage: Wie politisch aktiv sind die Weißrussen? Sind sie bereit, auf die Straße zu gehen?
Manajew: Auf die Frage, ob man im letzten halben Jahr mit Freunden oder Familienmitgliedern über Politik gesprochen hat, haben fast 70 Prozent mit Ja geantwortet. Die Frage über die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, wenn die Präsidentschaftswahl gefälscht werden würde, haben 15,5 Prozent mit Ja, 76 Prozent mit Nein geantwortet. Also wäre jeder Fünfte bereit, öffentlich zu protestieren.
Frage: Welche Bevölkerungsschichten begrüßen einen Umschwung?
Manajew: Wie in anderen Ländern sind es die Jugendlichen und die Einwohner der Hauptstadt und anderer Großstädte sowie die privaten Unternehmer. Die Gegner eines Umbruchs sind ältere Personen, darunter viele Rentner, die hauptsächlich auf dem Lande und in Kleinstädten leben, die über ein geringes Einkommen verfügen und eine unterdurchschnittliche Bildung haben. Sowie jene, die vom Staat total abhängen.
Frage: Wie viele eingefleischte ‚Lukaschisten‘ gibt es tatsächlich?
Manajew: Überzeugte Anhänger von Lukaschenko, die ihn in diversen Formen unterstützen würden, machen einen Viertel der Wähler aus. Doch Lukaschenkos Rating insgesamt ist heute über 47 Prozent. Das ist recht hoch. Für einen Machtwechsel haben sich in Umfragen 44,8 Prozent der Befragten ausgesprochen.
Frage: Kann man in Belarus also von einer tiefen Spaltung sprechen?
Manajew: Ja, eine Spaltung gibt es zweifellos, seit zehn Jahren. Und sie ist sehr tief. Fahren Sie einmal länger in unseren öffentlichen Verkehrsmitteln und Sie werden sehen, dass die Atmosphäre in der Gesellschaft sehr bedrückend ist. Man spürt und sieht die offene Aggression. Für die Einen sind das Leben und der politische Kurs des Landes voll in Ordnung. Und die anderen haben immer weniger Perspektiven und keine Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit und ihr Nicht-Einverständnis auf eine zivilisierte Art zu äußern. Die Meinung der 25 Prozent, die Lukaschenko bedingungslos unterstützen, wird täglich in den Massenmedien vertreten. Die anderen sind nicht sichtbar. Viele Menschen, die sich nach dem Wechsel sehnen, haben Angst, ihre Position öffentlich zu vertreten.
Frage: Haben Sie dafür auch zahlenmäßige Belege?
Manajew: Diese Frage stellen wir mindestens einmal im Jahr: Sind die Menschen bereit, ihre politischen Ansichten zum Ausdruck zu bringen? „Niemand hat Angst“, sagen 20 Prozent, „manche haben Angst“ – über 22 Prozent, „viele Menschen haben Angst“ – über 37 Prozent, „alle haben Angst“ – 14 Prozent. Jeder dritte Weißrusse hat in diversen Ausprägungen Angst und zieht es vor, lieber zu schweigen.
Frage: Welchen Einfluss hat die staatliche Propraganda?
Manajew: Jeder zweite Weißrusse glaubt, dass der Westen für Belarus eine Gefahr darstellt. Und dass obwohl der größte Teil der internationalen Hilfen aus dem Westen kommt und diese Hilfen größtenteils für soziale Bedürfnisse verwendet werden. Doch Informationen darüber erreichen die Menschen nicht. Was die Menschen sehen, ist eine verlogene, aggressive Massenpropaganda über den Westen, die in den wichtigsten zwei Kanälen gesendet wird.
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