Belarus

Artur Klinau: Von Bonn nach Belarus

Zur Leseprobe aus „Schalom. Ein Schelmenroman“

Herr Klinau, in Ihrem neuen Roman lassen Sie Ihren Romanhelden mit einer Pickelhaube und einer nach Dostojewski benannten Trinkmethode von Bonn nach Belarus fahren. Ist „Schalom“ ein Text über Europa?

Artur Klinau: Am ehesten ist „Schalom“ ein europäischer Reiseroman. Es sind eigentlich zwei Reisen, die sich überlagern: die physische Reise von West nach Ost, von Bonn in die belarussische Stadt Mogiljow. Und die zweite ist eine existenzialistische Reise: Der Held wird zwar schon in Deutschland als Narr angesehen, aber dort wird ihm sein Anderssein nicht verwehrt. Je weiter er nach Osten fährt, desto weniger Toleranz erfährt er. Und letztlich kommt es zu einem Krieg mit der Gesellschaft.


Warum beginnt die Reise in Deutschland? Und warum ausgerechnet mit einer preußischen Pickelhaube?

Klinau: 2005 habe ich einen Monat mit einem Freund aus Mogiljow in Bonn verbracht. Eines Tages haben wir auf dem Flohmarkt eine Pickelhaube gesehen. Wir waren begeistert und wollten sie unbedingt haben. Aber die Pickelhaube war teuer, 500 Euro, für uns war das viel Geld. Natürlich haben wir sie nicht gekauft. Heute verstehe ich, dass die Pickelhaube gar nicht echt gewesen sein kann, eine echte Pickelhaube kostet ja viel mehr. Danach sind wir in eine Bar gegangen und haben begonnen, eine Geschichte zu spinnen: Was wäre gewesen, wenn einer von uns diese Pickelhaube gekauft hätte, von seinem letzten Geld? Mit der Bedingung, sie nie wieder abzulegen? So fing die Geschichte an.


Eine Zugreise, viele literarische Zitate und Alkohol: Die Verbindungen zum russischen Kultroman „Moskau-Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew sind offensichtlich.

Klinau: Ja, es gibt gewisse Parallelen: Beides sind Reiseromane, und es wird viel getrunken. Aber das ist nur oberflächlich. Bei „Moskau-Petuschki“ versucht der Held nicht, die Realität zu verändern. Bei „Schalom“ rebelliert der Held, die Rebellion wird letztlich zu einer Frage von Leben und Tod. Und dass im Roman viel Alkohol fließt – das ist eher dem Realismus geschuldet. Wenn ich angefangen hätte, die Alkohol-Szenen aus dem Roman zu streichen, wäre das eine Kapitulation vor der Wahrheit des Lebens gewesen.


Im Text gibt es eine Stelle: „Und er reagierte mit gekünstelten Seufzern und wortloser Zustimmung, wenn das Elend der Hobbits in seinem unglücklichen Land zur Sprache kam“. Spricht da Artur Klinau?

Klinau: In gewisser Weise ja. In Europa wird das Bild von Belarus oft sehr vereinfacht gezeichnet. Schwarz-Weiß-Klischees, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben, die viel bunter und komplizierter ist. Natürlich ist das nicht die Schuld der Europäer. Was kann man schon über ein Land erfahren – aus den Überschriften in der Zeitung? Das Sprachrohr, das das Land eröffnet, ist die Kultur, und dabei besonders die Literatur. Leider kommt die belarussische Kultur in Europa derzeit nur sehr selten vor.


Zuletzt hat zumindest die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis gewonnen.

Klinau: Das zeigt einmal mehr, dass die größten Fortschritte in Belarus im Kulturbereich passieren. Natürlich ist das auch eine Anerkennung der belarussischen Literatur. Es bleibt zu hoffen, dass das Interesse an Alexijewitsch und an belarussischer Literatur in Europa wächst.


Zugleich gibt es aber Repressionen, wie gegen den Verlag Lohvinau, dem die Lizenz entzogen wurde und der mit Geldstrafen drangsaliert wird.

Klinau: Trotzdem hat sich in der unabhängigen Kunstszene viel getan. Minsk hat sich von einer Provinzstadt zu einer europäischen Kultur-Hauptstadt gemausert. Wenn der öffentliche Diskurs auf ein Minimum gedrückt wird, dann wird genau das Kulturleben zur einzigen legalen Bühne für neue Ideen. Und danach gibt es heute eine große Nachfrage. Die Kultur schafft einen Freiraum.


Wie wirkt sich der Konflikt in der Ukraine aus?

Klinau: Die belarussische Kultur trägt derzeit eine große Verantwortung. Sollte es – Gott behüte! – morgen einen Versuch geben, nach dem Ukraine-Szenario auch Belarus zu annektieren – dann wird der postsowjetische Mensch, über den Alexijewitsch in ihren Büchern schreibt, sein Land nicht verteidigen. Aber verteidigen werden es jene Menschen, die durch eine unabhängige belarussische Kultur geprägt wurden.


In einem Interview haben sie einmal gesagt, dass die belarussische Folklore ziemlich traurig ist. Das Buch „Schalom“ ist – trotz der existenzialistischen Fragen – ein lustiges Buch. Ist belarussische Literatur zu ernst?

Klinau: Die belarussische Literatur ist ziemlich ernst, weil es ihr schwer fällt, sich von den historischen Traumata des Volkes loszureißen. Man muss zugeben, dass die Belarussen wirklich zu den am meisten unterdrückten Völkern Europas zählen. Aber es gibt in der belarussischen Folklore noch einen anderen Helden – Nesterka, den Schelm, einen Eulenspiegel, der nie den Mut verliert. Ich sehe „Schalom“ als Fortsetzung dieser Tradition.

Zur belarussischen Version des Interviews im belarussischen Kulturmagazin pARTisan, dessen Chefredakteur Klinau ist


Zur Person:
Artur Klinau, 1965 in Minsk geboren, ist einer der einflussreichsten Kulturschaffenden seines Landes. Er ist Schriftsteller, Kunstler, Architekt und seit mehr als zehn Jahren Herausgeber der unabhängigen belarussischen Kunstzeitschrift pARTisan. Auf Deutsch erschienen bisher "Minsk. Sonnenstadt der Träume" (Suhrkamp 2006) und in der edition.fotoTAPETA "Partisanen". Kultur_Macht_Belarus (2013).

9783940524355             






SCHALOM

Artur Klinau

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

ISBN 978-3-940524-35-5
Broschur, 13 x 22 cm
272 Seiten
16,80 € (D)
edition.fotoTAPETA

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