Jamala: „Ich bin eine Patriotin“
„Sie kommen zu eurem Haus / um euch alle zu töten / und dann zu sagen, dass sie nicht schuld daran sind.“ Es ist kein leichtes Gepäck, mit dem Susanna Dschamaladinowa alias „Jamala“ nach Stockholm reist. Mit einer orientalisch angehauchten Mid-Tempo-Nummer geht die 32-jährige Krimtatarin für die Ukraine beim Eurovision Song Contest ins Rennen.
Das Lied „1944“ thematisiert die Vertreibung der Krimtataren, die unter Stalin als „Nazi-Kollaborateure“ verfolgt und innerhalb weniger Tage nach Zentralasien zwangsumgesiedelt wurden. Es war der 18. Mai 1944, als auch Jamalas Urgroßmutter mit ihren sechs Kindern in einen Zug gepfercht wurde. Fast die Hälfte der 240.000 Deportierten kam ums Leben. „Mit einem Lied zugleich das Einzelschicksal, aber auch die Geschichte von tausenden Menschen zu erzählen“, das sei ihre Absicht gewesen, so Jamala in einem Statement für n-ost.
Moskau setzt die Krimtataren unter Druck
„Wie Müll“ hätten die Sowjets die Toten vom Zug geworfen, wird Jamalas Urgroßmutter ihren Nachfahren später erzählen. So auch die Leiche ihrer Tochter, die auf der Reise starb. Ihre fünf Söhne überlebten. Der Song erzähle ihre persönliche Familientragödie und sei kein politischer Kommentar zur Ukraine-Krise, betont Jamala in Interviews. „Ich habe nichts mit Politik zu tun und möchte mich davon distanzieren“, sagt sie. „Aber ich bin eine Patriotin meines Landes, dessen Schicksal mir nicht gleichgültig ist.“
Dennoch ist „1944“ ein Politikum. Als Russland vor zwei Jahren über Nacht die Krim annektierte, waren es vor allem die knapp 300.000 Krimtataren, die protestierten. Seither ist die Minderheit unter Druck geraten: Der krimtatarische Fernsehsender ATR musste bereits vor einem Jahr seinen Betrieb auf der Krim einstellen, nachdem ihm russische Behörden die Lizenz entzogen hatten. Vor kurzem stufte der Oberste Gerichtshof der Krim das Krimtataren-Parlament, den Medschlis, als extremistische Organisation ein und verbot die Interessenvertretung der Krimtataren kurzerhand.
Kein Verstoß gegen die Regeln
Moskau sieht den ukrainischen Beitrag deshalb mit Argwohn. Abgeordnete des russischen Parlaments forderten, das Lied vom Wettbewerb auszuschließen. Explizit politische Texte sind beim Songcontest verboten. Doch die zuständige Europäische Rundfunkunion sieht keinen Verstoß gegen die Regeln. 2009 hatte sie noch den von Georgien nominierten Beitrag „We don’t wanna put in“ (ausgesprochen wie der Nachname des russischen Präsidenten „Putin“) ein Jahr nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien vom Wettbewerb ausgeschlossen.
Bei den Ukrainern dagegen ist Jamala sehr beliebt. Die erklärte Ablehnung der Annexion hat den Krimtataren große Sympathien eingebracht. Krimtatarische Binnenflüchtlinge wurden im Rest der Ukraine mit offenen Armen empfangen. Diese Sympathiewelle hat Jamala in der Vorausscheidung sicher nicht geschadet.
Die Popsängerin, die sich mit dem englischen Song „Smile“ bereits 2011 vergeblich für den ukrainischen Startplatz beim European Songcontest beworben hatte, nutzte die Gunst der Stunde. In einem Publikums- und Juryvotum setzte sich Jamala im Februar gegen fünf ukrainische Mitbewerber durch. Krimtataren sollen sogar auf das ukrainisch kontrollierte Territorium gereist sein, um per SMS für Jamala abstimmen zu können. Ukrainische Nummern sind inzwischen auf der Krim gesperrt.
Jamalas Familie lebt noch auf der Krim
Jamalas Geschichte ist eng mit ihrer Volksgruppe verbunden. 1983 als Tochter eines Krimtataren im kirgisischen Exil geboren, kehrte Jamala mit ihrer Familie nach dem Zerfall der Sowjetunion auf die Krim zurück. Im jungen Erwachsenenalter ging Jamala nach Kiew, um Operngesang zu studieren. Sie selbst ist seit dem Sommer 2014 nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Kurz darauf schrieb Jamala den Song „1944“, was sie heute als einen „sehr schweren und emotional schwieriger Moment“, bezeichnet. Immer begleitet von der Sorge, ihrer Familie damit zu schaden, die noch heute auf der Krim lebt.
Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass politische Lieder beim Songcontest laufen. So sind etwa Griechenland und Portugal mit Songs über die Eurokrise angetreten. Zumindest eine Premiere wird es in diesem Jahr jedoch geben: Erstmals wird beim Songcontest die krimtatarische Sprache, eine Turksprache, erklingen. Denn den Refrain wird Jamala auf krimtatarisch singen. „Ich konnte hier nicht meine Jugend verbringen / weil ihr mir meinen Frieden genommen habt.“
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Quellen:
Schriftliche Korrespondenz mit der Sängerin Susana Dschamaladinowa alias „Jamala“
Offizielles Video „1944“ von „Jamala“
https://www.youtube.com/watch?v=oxS6eKEOdLQ
Offizielle Seite des Eurovision Songcontest
https://www.eurovision.de
Sendung ATR verliert Lizenz auf der Krim
http://www.theguardian.com/world/2015/apr/01/crimeas-independent-tatar-tv-news-channel-silenced-by-red-tape
Verbot des Medschlis
http://www.rferl.org/content/russia-crimea-tatar-mejlis-suspended-extremist/27682394.html