Zwischen Journalismus und Literatur
ostpol: Sie laden zu den Lesungen polnische Publizisten nach Berlin ein, die in ihrer Heimat vor allem für ihre Reportagen bekannt sind. Was ist das Besondere an diesen Texten?
Lisa Palmes: Einerseits sind sie genau beobachtete, gründlich recherchierte Schilderungen gesellschaftlicher Zusammenhänge, andererseits sind sie in einer sehr dichten, poetischen Sprache verfasst. Sie haben literarischen Charakter und sind dadurch eher Erzählungen als rein journalistische Berichte.
Kann man von dem Genre „Polnische Reportage“ sprechen?
Ja, das kann man. In Deutschland werden Reportagen ja meistens für Zeitungen geschrieben, in Polen erscheinen dagegen oft reine Reportagebücher mit verhältnismäßig hohen Auflagen. In Warschau gibt es ein Reportage-Institut, an dem speziell mit dieser Form gearbeitet wird. Es ist ein ganz anderer Umgang mit der Gattung.
Wovon handeln die Reportagen Ihrer Reihe?
Fast alle Autoren, die wir eingeladen haben, arbeiten bei Polens größter Tageszeitung, der Gazeta Wyborcza, die ihnen ausgedehnte Recherchereisen ermöglicht. Es sind also weniger spezifisch polnische Themen: Wojciech Jagielski hat eine Zeit lang über den Kaukasus geschrieben, dann über Afghanistan, jetzt ist er auf Afrika umgeschwenkt. Witold Szablowskis Buch „Der Attentäter aus der Aprikosenstadt“ spielt in der Türkei, Malgorzata Rejmer schreibt über Rumänien. Auch für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion interessieren sich viele polnische Journalisten.
Der im Ausland berühmteste polnische Journalist ist der 2007 verstorbene Ryszard Kapuscinski. Inwiefern stehen die Autoren, die heute in Polen Reportagen schreiben, in seiner Tradition?
Sie selbst würden wahrscheinlich alle sagen, dass sie in seiner Tradition stehen. Er ist das große Vorbild, zusammen mit der Journalistin Hanna Krall. Bereits in den 60er und 70er Jahren schrieben sie Reportagen in einem sehr literarischen Stil, den man bei der Mehrheit der polnischen Reportagen heute erkennen kann. Diesen beiden Autoren ist es zu verdanken, dass sich die literarische Reportage in Polen so verbreitete.
Kapuscinski wird vorgeworfen, dass er die Realität bisweilen ziemlich weit ausdehnte. Grenzen sich die heutigen Autoren von ihm ab?
Im Grunde ist keine Reportage vollkommen objektiv und wahr. Ihr Gegenstand ist ja immer durch den Filter desjenigen gesehen, der sie schreibt.Wir haben darüber mit Wojciech Jagielski gesprochen. In seinem Buch „Wanderer der Nacht" gibt es eine Figur, die in Wirklichkeit nicht existiert, sondern sich aus mehreren Figuren zusammensetzt, so eine Art literarische Essenz. Jagielski ist dafür kritisiert worden. Man fand, er habe sich da etwas zu weit vorgewagt. Auch er selbst sagte, es sei ein Experiment gewesen, das er nicht wiederholen würde.
Ist diese Art des Schreibens Literatur oder ist es Journalismus?
Das ist die Frage, die deutsche Verlage auch immer stellen: Ist das nun ein Sachbuch, oder ist es Belletristik? - Es ist beides, es lässt sich nicht so klar trennen. Das ist genau der Punkt, warum sich diese Texte in Deutschland schwer vermitteln lassen. Hauptsächlich sind es Polen, die zu unseren Lesungen kommen. Das ist schade, es ist ja eine sehr spezielle Art von Literatur, die es in Deutschland so nicht gibt. Wir wollen erreichen, dass sie hier mehr Resonanz bekommt.