Russland

Böses Blut

Im Zentrum von Jekaterinburg stehen sie Schlange: Männer, Frauen, manche mit Kindern auf dem Arm, bei Minus 15 Grad. Sie reiben sich zum Wärmen die Hände, atmen kleine Dampfwolken aus. Vor ihnen stehen zwei weiße Wagen mit großen Plakaten: „Hier können Sie sich kostenlos und anonym auf HIV testen lassen – es tut nicht weh.“

In einem der Wagen sitzt Milana Ladnewa. „Die Leute sind in Panik“, sagt sie. Als Freiwillige für die mobile Station des Aids-Zentrums der Stadt übermittelt sie Getesteten ihre Ergebnisse, gibt Rat, tröstet. Als eine von 27.000 HIV-Infizierten in Jekaterinburg lebt sie selbst mit der Diagnose, die die Wartenden fürchten. Seit das Jekaterinburger Gesundheitsamt am 1. November den Ausbruch einer „generalisierten HIV-Epidemie“ erklärte, kommen doppelt so viele Menschen zu Milana wie vorher. Gut 200 seien es pro Abend.

„Generalisierte Epidemie“ bedeutet, dass nicht nur Risikogruppen wie Drogenabhängige und Strafgefangene betroffen sind, sondern auch Schwangere und Kinder. Die 1,4-Millionenstadt am Uralgebirge ist zum Symbol dafür geworden, dass HIV jeden treffen kann. In Jekaterinburg sind zwei Prozent HIV-positiv, so viel wie in keiner anderen Großstadt Russlands. Und das sind nur die gemeldeten Fälle.


Die Legende vom „Ukraine-Virus“

Marina Halidowa überrascht das nicht. Die Ärztin und Psychologin im rosafarbenen Pullover und mit schwarzem Bubikopf leitet die Stiftung „Nowoje Wremja“ („Neues Zeitalter“), die seit 1998 mit HIV-Infizierten arbeitet. „Die Epidemie gibt es hier schon seit Beginn der Nullerjahre“, sagt sie. Nur so deutlich gesagt hätten das die Behörden nicht – und sich kaum gekümmert.

Als Ärzte zum ersten Mal auf das Virus stießen, gab es nicht einmal hundert Betroffene im gesamten Uralgebiet. Den ersten Ausbruch gab es 1996 in der Kleinstadt Werchnaja Salda, zwei Autostunden von Jekaterinburg entfernt. „Damals entstand die Legende, dass Drogenabhängige aus der Ukraine die Seuche in den Ural eingeschleppt hätten“, erinnert sich Halidowa. „Alle dachten, dass es bei den Hundert bleibt.“

Doch um die Jahrtausendwende flammte die Infektion wieder auf. Jekaterinburg war ein Knotenpunkt auf der internationalen Drogenroute; ob Haschisch, Heroin oder Desmorphin, auch als „Droge der armen Menschen“ bekannt: Bevor die Suchtmittel von Asien nach Europa wanderten, landeten sie in der Ural-Metropole. Die Jugendlichen dort waren offen für Experimente. „Was anderswo geschluckt wurde, haben die sich gespritzt“, erzählt Halidowa. Noch heute geht die Hälfte der Neuansteckungen auf das Teilen von Nadeln zurück. Als die Stiftung ihre Arbeit anfing, konzentrierte sie sich deshalb auf die Drogenabhängigen. Inzwischen arbeitet sie überwiegend mit HIV-infizierten Frauen und Kindern.


„Einfach nur verrecken“

Längst nicht alle gehören zur Mitte der Gesellschaft, wie die, die vor den mobilen Test-Wagen des Aids-Zentrums anstehen. Etwa Jana, die eigentlich anders heißt. An deren Haustür klingelt Halidowa an einem verschneiten Novembernachmittag einmal, zweimal, dreimal. Erst beim vierten Mal geht die Tür zum Treppenhaus auf.

Die dunkelhaarige Frau, die die Wohnungstür öffnet, hält sich kaum auf den Beinen. Über den knochigen Knien schlabbert ein schmutziger Bademantel. In der Wohnung riecht es nach Hunden, abgestandenem Rauch und Alkohol. „Jana, wir müssen über deine Tochter reden“, sagt Halidowa. Die Frau wankt in die Küche, lässt sich auf einem Kinder-Plastikstuhl nieder, gießt 96-prozentigen Alkohol in ein Glas, verdünnt ihn mit Wasser und zündet sich eine Zigarette an.

Vor zwei Tagen hat Janas 14-jährige Tochter Irina, so wie ihre Mutter HIV-infiziert, versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie hielt es zu Hause nicht mehr aus. Janas Mann, ebenfalls HIV-positiv, starb vor einem Jahr an Tuberkulose. Seither kann Jana nicht mehr aufhören zu trinken. Nun ist Irina im Heim, genau wie ihre kleine Schwester. Und Jana trinkt weiter. „Ich will, dass das alles aufhört“, sagt Jana durch den Schleier aus Qualm. „Ich will einfach nur verrecken!“


Viele leugnen ihre Krankheit

Jana ist ein Extremfall, aber nicht die einzige HIV-Infizierte, die ihre Krankheit nicht im Griff hat. „Viele fangen eine Therapie an, brechen dann wieder ab“, erzählt Halidowa. Manche sterben lieber als zuzugeben, dass sie infiziert sind. Erst kürzlich habe sie eine ehemalige Mitarbeiterin begraben müssen. „Sie hatte die Medikamente abgesetzt, weil sie ihrem neuen Freund nicht von ihrer Krankheit erzählen wollte“, sagt sie.

Andere fangen gar nicht erst mit einer Therapie an. „Sie leugnen, dass es HIV gibt“, erzählt Halidowa. Ärzte und Behörden sprechen in solchen Fällen von „HIV-Dissidenten“. Nicht alle werden an Psychologen und Sozialarbeiter weitervermittelt. Sie leben dann ohne Medikamente – und sterben früh, oft an Tuberkulose, die in der Region ebenfalls grassiert.


HIV als Schandmal

Doch auch jene, die ihre Krankheit akzeptieren, haben es schwer. Beispielsweise die 39-Jährige Elena, die zusammen mit anderen Frauen im Gemeinschaftsraum von „Nowoje Wremja“ sitzt und Tee trinkt. „Wenn man in Russland HIV hat, ist es, als hätte man ein Schandmal auf der Stirn“, sagt sie. Sogar vor ihren beiden Söhnen hält die 39- Jährige ihre Krankheit geheim. Draußen stampfen Fußgänger durch den Schnee, drinnen surrt der Wasserkocher, es riecht nach Keksen und altem Haus.

Auch Ksenija, die ebenfalls ihren richtigen Namen nicht nennen will, tut ihr Möglichstes, damit niemand erfährt, dass sie krank ist: „Wenn ich meine Medikamente im Aids-Zentrum abhole, dann nur mit Mundschutz und Sonnenbrille“, sagt sie. Zu groß sei ihre Angst, zufällig Bekannte zu treffen. Viele der Frauen, die hierher kommen, haben Freunde verloren, denen sie von ihrer Krankheit erzählt hatten.

Nur wenige gehen offen mit ihrer Krankheit um. Wie die 25-Jährige Marina, ebenfalls eine Patientin im Zentrum. „Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse“, sagt die 25-Jährige. Sie hat sich von ihrem Freund angesteckt. „Wir wollten Kinder “, sagt sie. Auf ihrem Schoß sitzt ihre einjährige Tochter Eva. In deren Blut gibt es keine HI-Viren. Dennoch gehört das Virus für sie wie für viele Jekaterinburger bereits zum Alltag.

Wie viele HIV-Kranke gibt es in Russland?
Laut der Statistik des Föderalen Aids-Zentrums Russlands erreichte die Zahl der HIV-Kranken im 1. Halbjahr 2016 rund 850.000 Menschen. Im Schnitt kommen in Russland 32 HIV-Infizierte auf 100.000 Einwohner. Die Region rund um Jekaterinburg ist Spitzenreiter: Dort kommen 1.592 Infizierte auf 100.000 Einwohner. In der Stadt selbst kommen 1.826 Infizierte auf 100.000 Einwohner – insgesamt 27.000, davon 800 Kinder. Lediglich drei Viertel der Kranken werden von Ärzten beobachtet. Davon erhält wiederum nur ein Drittel Medikamente.

Was wird gegen HIV getan?
Die russische Regierung gibt seit 2014 jährlich gut 20 Milliarden Rubel (285,7 Millionen Euro) für HIV-Medikamente aus. Am 15. November wurde bekannt, dass sie die Ausgaben um rund 13 Milliarden Rubel (186 Millionen Euro) aufstocken möchte. Obwohl das Land zu den am stärksten betroffenen Gebieten weltweit gehört, gibt es noch keine einheitliche Anti-Aids-Strategie. Auch nimmt das Land nicht am „90-90-90“-Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) teil, das vorsieht, dass bis zum Jahr 2020 rund 90 Prozent der HIV-Infizierten von ihrem Status wissen, 90 Prozent der Diagnostizierten Medikamente bekommen und bei 90 Prozent von ihnen der Rückgang der Infektion beobachtet wird.


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