„Generation Putin“ von Benjamin Bidder

Aufstand
»Nach einiger Zeit wird vielleicht endlich ein Ende dieser kindlichen Klage gesetzt, dass es zu Putin keine Alternative gibt.« Der 10. Dezember 2011 ist der Tag, an dem Wera Kitschanowa überzeugt ist, vor ihren Augen verändere sich der Lauf der Geschichte. Sie ahnt nur nicht, in welche Richtung.
Die Opposition hat für diesen Tag zu einer Kund gebung aufgerufen. Die Stimmung in Moskau ist gespannt, die Staatsmacht nervös. Polizisten der Sondereinheit OMON stehen an den Straßenrändern, die dunklen Visiere der Helme heruntergelassen, die Kreml-Gegner nennen sie spöttisch »Kosmonauten«.
Wera schlägt den Kragen ihres grauen Mantels hoch und bricht auf in die Innenstadt. Unterwegs checkt sie noch einmal die Neuigkeiten auf Twitter. Ein Oppositionsaktivist gibt den Rat, aus der Apotheke Mundschutzmasken mitzunehmen, der Einsatz von Tränengas sei möglich.
Dann steht Wera vor dem Bolotnaja-Platz, über den Baumwipfeln schimmern golden die Kuppeln des Kreml. Die Temperatur liegt bei drei Grad unter Null, einzelne Schneeflocken fallen vom tristen Winterhimmel, aber Wera ist nicht kalt – ihre Stimmung ist festlich. Vor sich sieht sie eine unüberschaubare Menschenmenge. Sogar ihr Vater ist gekommen. Er hat seine Klassenkameraden mitgebracht. Sie wollen »bei der Revolution dabei sein«, sagt er.
Wir verlosen zwei Exemplare von Benjamin Bidders Buch „Generation Putin. Das neue Russland verstehen“. Wenn Sie an der Verlosung teilnehmen möchten, beantworten Sie uns bitte bis zum 10. November, 12 Uhr, folgende Frage: Wer hält die klügste Rede auf dem Bolotnaja-Platz? Antworten bitte an abo@ostpol.de. Viel Glück!
Die Menschen stauen sich auf der Luschkow-Brücke. Sie führt über einen Kanal auf den Platz. Die Polizei fürchtet zwischenzeitlich, sie könnte unter der Menschenmenge zusammenbrechen. Sie stauen sich auch am gegenüberliegenden Kanalufer, weil sie keine Chance mehr haben, auf den Platz zu gelangen.
Die Polizei nennt die Zahl von 25 000 Teilnehmern, die Veranstalter sprechen von 100 000. Die Wahrheit liegt dazwischen, wahrscheinlich sind es rund 50 000. Es ist die größte Kundgebung seit Mitte der neunziger Jahre, und sie trifft alle unvorbereitet: den Kreml, der die Opposition marginalisiert glaubte, und auch die Organisatoren selbst.
Über der Menge surrt ein Mini-Helikopter mit Kamera. Der Blogger Ilja Warlamow hat ihn angeschafft und mehrere Reporter mit iPhones losgeschickt, sie übertragen die Demonstration live auf Warlamows Nachrichtenseite Ridus.
Der Inlandsgeheimdienst FSB hat versucht, auf sozialen Netzwerken Seiten zu blockieren, die zu der Demonstration aufrufen. Pawel Durow, Gründer des russischen Facebook-Klons VK.com, hat sich dagegen zur Wehr gesetzt und den Fall öffentlich gemacht. »Noch stehen wir«, schreibt er auf Twitter.
Junge Männer klettern auf Bäume, um wenigstens einen Blick auf die winzige Bühne zu erhaschen. Manche haben sich eine weiße Schleife an das Revers der Mäntel geheftet, als Symbol des Protests. »Weiß ist die Farbe der Reinheit«, sagt der 21-jährige Moskauer Andrej. Für ihn sei das Band ein »Zeichen des Widerstands, dass wir genug haben von Dreck und Betrug. Wir wollen Veränderung und Wahrheit.« Andrejs Freundin trägt einen Strauß weißer Chrysanthemen.
Der Dreck, das sind die manipulierten Parlamentswahlen wenige Tage zuvor. Sie werden zum Auslöser einer Protestwelle, mit der die Opposition den Kreml zu Zugeständnissen bewegen will, die letztlich aber zum Gegenteil führt: Der Kreml zieht die Daumenschrauben an.
93 Prozent in der Psychiatrie
Bei der Abstimmung am 4. Dezember 2011 wenden sich Millionen Russen von »Einiges Russland« ab, der »Partei der Macht« des Kreml. Die Partei erringt zwar noch die absolute Mehrheit der Mandate, sackt aber von 64 auf 49 Prozent ab.
Insgesamt stimmen zwölf Millionen Russen weniger für Putins »Einiges Russland« als bei den Wahlen vier Jahre zuvor. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) stuft die Abstimmung als »weder frei noch fair« ein. Zu diesem Urteil ist sie allerdings auch in früheren Jahren immer wieder gekommen, ohne großen Unmut der Russen zu erregen.
Die Führung hatte sich deshalb an den Gedanken gewöhnt, das Volk lenken und manipulieren zu können. Die »Polit-Technologen« des Kreml treten beliebig Schmutzkampagnen los, schaffen Parteien und lassen sie bald darauf wieder sterben. Selbst die sonst recht kremlkritisch gestimmte Boulevardzeitung Moskowskij Komsomolez kommt 2011 zunächst zu dem Schluss, die Führung im Kreml zeige mit dem »glaubwürdig erscheinenden Wahlergebnis, dass sie ihren Machtinstinkt nicht verloren hat«. Eine Fehleinschätzung.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Wahl 2011 tatsächlich nicht stärker manipuliert wird als frühere Abstimmungen. Verändert haben sich dagegen die Möglichkeiten und die Bereitschaft der Wähler, dem Staat auf die Finger zu schauen. Vor allem in Moskau spielt das eine Rolle, der Hauptstadt, auf die das ganze Land schaut.
Tausende haben sich dort als Wahlbeobachter registrieren lassen, darunter viele Journalisten neu entstandener Onlinemedien. Der Internetsender TV Rain hat praktisch die ganze Redaktion als Wahlbeobachter angemeldet. Dazu kommen Organisationen wie die NGO Golos (»Stimme«), die im Internet alle Informationen über Verstöße gegen das Wahlgesetz zentral sammelt.
Bei Schließung der Wahllokale erreicht die Zahl der gemeldeten Vorfälle 7800. Das wichtigste Hilfsmittel der Wahlbeobachter ist das Smartphone. So filmt ein Beobachter im Moskauer Wahlbezirk Nummer 2501, wie ein Mitglied der Wahlkommission offenbar mehrere Wahlzettel selbst ausfüllt. In flagranti ertappt, schiebt der Offizielle die Protokolle verschämt beiseite.
In Sankt Petersburg beklagen Wähler, für sie sei offenbar bereits abgestimmt worden, bevor sie selbst ihre Wahlzettel ausfüllen konnten. In der Stadt Orenburg an der Grenze zu Kasachstan rücken 40 Soldaten geschlossen zur Abstimmung an und bringen mehr als 200 Pässe von Kameraden mit, für die sie ebenfalls abstimmen wollen.
In Tschetschenien holt »Einiges Russland« angeblich 99,47 Prozent. Das Fernsehen macht sich zum Gespött: Laut einem Schaubild des Kanals Rossija 24 hat »Einiges Russland« in der Region Rostow im Süden des Landes 58,99 Prozent der Stimmen erhalten – sechs weitere Parteien kommen allerdings zusammen nochmals auf 87,48 Prozent. Solche Pannen können passieren. Für viele Russen wirkt der Fauxpas aber wie eine Bestätigung ihres Verdachts, dass die Auszählung der Stimmen nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.
Als die Schuldigen der Misere macht der Kreml die Wahlbeobachter aus. Das kremlnahe Internetportal Lifenews veröffentlicht unmittelbar nach der Wahl den E-Mail-Verkehr von Golos, darunter Briefwechsel mit amerikanischen Diplomaten. Das Material sei von »Hackern« erbeutet und der Redaktion zugespielt worden. Lifenews ist allerdings auch mit Russlands Geheimdiensten gut verdrahtet.
Es ist nicht die erste Attacke auf Golos: Am Tag der Wahl wird die Webseite der Organisation mit so genannten DDoS-Attacken überzogen. Die Abkürzung steht für »Distributed Denial of Service« (»Dienstblockade«, »Dienstverweigerung«) und bezeichnet eine Art Datenlawine, mit der die Angreifer ihr Ziel so lange beschießen, bis die angegriffene Webseite zusammenbricht. Sie erstickt praktisch im Datenmüll. DDoS-Angriffe gehören zu den primitivsten Hackertechniken. Selbst mäßig talentierte Computer-Nerds sind so bereits mit geringem Aufwand in der Lage, eine Internetseite zumindest für kurze Zeit lahmzulegen. Es ist eher Cybervandalismus als echter Cyberkrieg. Merkwürdig ist allerdings, dass nicht nur die Golos-Seite unter DDoS-Angriffen zusammenbricht, sondern fast zeitgleich auch die Portale von Medien wie der Tageszeitung Kommersant oder dem Radiosender Echo Moskau, die groß über Wahlmanipulationen berichten.
Golos wird in der Folge zu einer Art »Staatsfeind Nummer 1«. Das liegt auch daran, dass die Organisation Zuwendungen von amerikanischen Geldgebern erhalten hat, darunter zum Beispiel USAID, die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit. Das daraufhin 2012 erlassene Gesetz gegen »ausländische Agenten« zielt in erster Linie auf Golos.
Zahlreiche Unterstützer der Organisation geraten ebenfalls unter Druck. Zum Beispiel die russische Ausgabe des Forbes-Magazins, damals noch herausgegeben vom deutschen Axel-Springer-Verlag, der in der Folge aber angesichts des massiven Drucks einknickt und seine Anteile verkauft. Forbes hatte auf seiner hochfrequentierten Webseite die von Golos gesammelten Wahlverstöße veröffentlicht.
Die verblüffendsten Belege, dass etwas mit den Wahlergebnissen nicht stimmt, veröffentlicht allerdings keine vom Westen unterstützte NGO und auch kein liberales Medium. Es ist die staatliche Wahlkommission selbst, und zwar auf ihrer Webseite. Dort steht, dass etwa die Patienten des Psychiatrischen Krankenhauses Nr. 3 im Nordosten Moskaus fast geschlossen für »Einiges Russland« gestimmt haben sollen: 93 Prozent der dort abgegebenen 379 Stimmen entfallen auf die Kreml-Partei, an die gesamte Opposition gehen dagegen nur 26 Stimmen.
Im Städtchen Kurtamysch an der Grenze zu Kasachstan stimmen 82 Prozent der Patienten der örtlichen Nervenheilanstalt für »Einiges Russland«. Verdächtig hoch fällt die Unterstützung auch im Moskauer Pensionat Nr. 1 für Veteranen aus, einem Altersheim. Mehr als 96 Prozent der Bewohner stimmen für Putins Partei. In Putins eigenem Wahlkreis dagegen muss sich seine Partei mit dem zweiten Platz begnügen: Im Moskauer Gagarin-Viertel erreicht »Einiges Russland« lediglich 23,7 Prozent, es gewinnen die Kommunisten.
Rechte Kameraden
Wera steht auf dem Bolotnaja-Platz zwischen russischen Nationalisten. Über ihrem Kopf flattert eines der Symbole der Rechten, die schwarz-gelb-weiße Fahne des alten Zarenreichs. Wera verbindet mit ihnen nicht mehr als die Gegnerschaft zu Wladimir Putin.
Viele Nationalisten haben Putin nach seinem Amtsantritt im Kreml zunächst unterstützt. Weil er seine Reden schon mal mit einem zackigen »Ruhm Russlands!« beendete, hielten sie ihn für einen der ihren. Über die Jahre aber haben sie sich von ihm abgewandt, Putin ist ihnen nicht radikal genug.
Rechtes Gedankengut ist unter jungen Russen weit verbreitet, auch in Weras Generation. Swetoslaw Wolkow ist so ein Fall. Er ist ebenfalls 1991 geboren, hat breite Schultern und ein Faible für Deutschland. Ein schwarzer Pullover des Brandenburger Neonazi-Labels Thor Steinar bedeckt sein Tattoo: »Meine Ehre heißt Treue« hat er sich auf den linken Arm stechen lassen, den Wahlspruch von Hitlers SS.
Swetoslaw wuchs auf, wo Russland »in den neunziger Jahren am kriminellsten war«, wie er sagt. Seine Heimat Ljuberzy ist eine gesichtslose Plattenbausiedlung hinter der Stadtgrenze Moskaus.
Mafiagruppen verübten dort Raubüberfälle, sie kontrollierten Nachtclubs und ganze Fabriken. Vor dem Haus, in dem er heute wohnt, erinnert eine Gedenktafel an das Opfer eines Attentats. Swetoslaw war drei, als er mit seiner Mutter vom Spielplatz aus verfolgte, wie die Killer abdrückten.
Swetoslaw trinkt und raucht nicht, treibt viel Sport. »Straight Edge« heißt die Philosophie, der er folgt, übersetzt heißt das so viel wie »klare Kante«. Er gehört zu einer neuen Generation von Neonazis. Sie fallen nicht auf wie die Skinheads von früher und können gut reden.
Wie der norwegische Attentäter Anders Breivik, der in einem Ferienlager 69 Menschen erschoss und eine Bombe im Regierungsviertel von Oslo zündete, predigen sie den bewaffneten Kampf gegen den Staat.
»Der Hauptfeind ist die Russische Föderation«, sagt Swetoslaw. »Das Ziel ist die Ergreifung der Macht.« In einem Wald vor Moskau übt er dafür mit Gleichgesinnten im Kampfanzug Schießen an einem Jagdkarabiner. »Ich kann jene verstehen, die in Gewalt den letzten Ausweg sehen, weil der Staat alle unsere Organisationen verbietet«, erklärt Swetoslaw.
»Deshalb töten sie jetzt nicht mehr Ausländer und Gastarbeiter, sondern Polizisten, Richter und von den USA gesponserte Menschenrechtler. Das hat nichts mit Hass zu tun. Wir reagieren auf Gewalt mit Gegengewalt.« Er bereite sich auf einen nationalen Kampf vor.
Russische Experten beobachten einen Wandel der militanten rechten Szene: Neonazis zündeten 2011 fünf Polizeireviere an. 2010 starb der Moskauer Strafrichter Eduard Tschuwaschow nach Schüssen aus einem Revolver.
Die Polizei hält einen Neonazi mit zwei Hakenkreuz-Tattoos auf der Brust für den Täter, der sich im Oktober 2011 mit einer Granate versehentlich selbst in die Luft sprengte. Eine Machtergreifung der Rechten ist das Schreckensszenario für den Vielvölkerstaat. Swetoslaw will ein neues Russland, aber es soll anders aussehen, als Wera es sich erträumt: national, slawisch, ohne den Kaukasus.
Schneerebellion
Die Akustik auf dem Bolotnaja-Platz ist ein Desaster. Die Demonstration war ursprünglich für 300 Teilnehmer angemeldet, hundert Meter von der Bühne entfernt sind die Reden der Organisatoren nicht mehr zu hören. Wera gefällt auch nicht, was sie hört: zu viele Allgemeinplätze. Sie hat das Gefühl, niemand auf der Bühne ist in der Lage, die richtigen Worte zu finden, »und niemand weiß, was weiter zu tun ist«.
Die Demonstranten harren drei Stunden lang aus. »Hört auf zu lügen« steht auf einigen der Plakate. Die wichtigste Botschaft des Tages aber ist keine Parole, sondern es sind Größe und Zusammensetzung der Demonstration.
Unter den Teilnehmern sind anders als früher auch Unternehmer, höhere Beamte, Moskaus erfolgreiche Oberschicht. Sie geht zum ersten Mal überhaupt auf die Straße. Außer einigen Unentwegten skandiert die Menge auch nicht das übliche »Putin muss weg« der Opposition. Die bloße Präsenz der neuen Unzufriedenen ist Forderung genug: Moskaus Bürgertum will den Beginn eines demokratischen Prozesses.
Die Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz ist die erste einer Serie von Demonstrationen im Winter 2011 / 2012. Wegen der frostigen Temperaturen bekommt sie den Spitznamen »Schneerevolution«. Der Chef des staatlichen Gesundheitsamts hofft, die Moskauer mit Warnungen vor einer Grippewelle vom Demonstrieren abzuhalten. Zehntausende harren dennoch über Stunden im Freien aus, bei bis zu minus 25 Grad Celsius.
Die Organisatoren der Kundgebung am 10. Dezember sind die gleichen, die noch vor Kurzem Mühe hatten, ein paar Tausend zu mobilisieren, um alle zwei Monate für die Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Was hat sich verändert? Ist es der Einfluss des Internets? Der Ärger der Menschen über den Wahlbetrug? Warum haben sie dagegen nicht früher aufbegehrt?
Bei der nächsten Demonstration am 24. Dezember schwillt die Menschenmenge noch einmal an. Rund 100 000 Moskauer versammeln sich auf dem Sacharow-Prospekt. Der Schriftsteller Dmitrij Bykow, einer der Organisatoren, stellt von der Bühne die rhetorische Frage, »wie das bloß enden soll«. Dann ruft er: »Das hier hört nie auf!« Ihre Wucht entwickelt die Protestbewegung in Wahrheit deshalb, weil ihr Entstehen niemand so recht versteht, der Kreml ebenso wenig wie die Opposition selbst.
Die Kreml-Gegner machen eine verblüffende Entdeckung: Sie sind fast über Nacht cool geworden, angesagt, irgendwie sexy. Der Schriftsteller Georgij Tschchartischwili, einem Millionenpublikum in Russland besser bekannt unter seinem Pseudonym Boris Akunin, hält viel beachtete Reden.
Das einstige Partysternchen Xenija Sobtschak – 2,9 Millionen Follower auf Instagram, 1,6 Millionen auf Twitter – vollzieht ihre Wandlung von der Moderatorin des russischen »Big Brother« hin zur seriösen Journalistin.
Sobtschak ist Tochter des früheren Petersburger Oberbürgermeisters, eines Zieh vaters Putins. Sie ist hübsch, reich und war jahrelang eher unpolitisch, aber das hat sich geändert. Nachdem auf Druck des Kreml ihre regierungskritische Talkshow eingestellt wird, sagt sie: »Ich bin zwar keine Revolutionärin, würde jetzt aber gern lernen, wie man einen Molotowcocktail bastelt.«
2011 beginnt Sobtschak sogar eine Romanze mit dem Oppositionsaktivisten Ilja Jaschin. Jaschin hat es im September 2007 einmal mit einer Protestaktion in die Schlagzeilen der Weltpresse geschafft: Mit einem Benzinkanister marschierte er auf den Roten Platz, in der Hand hielt er ein Plakat mit einer Botschaft an Putin: »Schmor in der Hölle«. Dann steckte sich Jaschin selbst an – trug allerdings einen feuerfesten Anzug.
Er wollte so Aufmerksamkeit auf die »Operation Nachfolger« lenken. Putin hatte damals beschlossen, Medwedew solle ihm als Präsident nachfolgen. Jaschins Aktion ließ die Russen kalt. Vier Jahre später dagegen verkörpert seine Liaison mit Sobtschak ein neues Phänomen: Die High Society umarmt die Straßenkämpfer.
Die klügste Rede auf dem Bolotnaja-Platz hält kein Politiker oder Oppositionsaktivist, sondern der Journalist und TV-Moderator Leonid Parfjonow. Er ist eines der bekanntesten Gesichter des russischen Fernsehens.
Seit zwölf Jahren kennt das TV nur einen Helden. Daher kommen die politischen Umfragewerte, aus nichts anderem. Wenn aber diese Wahlen eines gezeigt haben, dann ist es das Bedürfnis nach Wandel, nach einem Schritt nach vorn.
Es muss endlich einen gesellschaftlichen Dialog geben, den es über all die Jahre nicht gab, einen Dialog darüber, wie wir unser Russland sehen wollen. Dann wird es auch politischen Wettbewerb geben, neue Anführer, neue Ideen, und nach einiger Zeit wird vielleicht endlich dieser kindlichen Klage ein Ende gesetzt, dass es zu Putin keine Alternative gibt.
Die Proteste jagen dem Kreml einen Schrecken ein. Sie kratzen an Putins Nimbus der »überwältigenden Mehrheit«, mit der er seinen Kurs bis dahin legitimiert hat. Ob bei der Übernahme der Kontrolle über die Fernsehsender, der Zähmung des Parlaments oder der Gouverneure: Die große Mehrheit billigte die Schritte, Massenproteste blieben aus.
Die plötzlichen Massendemonstrationen lassen auch erste Risse innerhalb des Systems erkennen: Beamte und einige führende Funktionäre der Präsidialverwaltung schauen vorbei, darunter Michail Abysow, ein Milliardär, der wenige Monate später Minister werden soll, ein Mann des Medwedew-Lagers.
Wladislaw Surkow, der für Innenpolitik zuständige Vizechef der Kreml-Verwaltung, lobt die Demonstranten als »besten Teil unserer Gesellschaft, genauer gesagt, ihren produktivsten«. Westliche Zeitungskorrespondenten stellen Surkow ihren Lesern damals immer noch als »ChefIdeologen des Systems Putin« vor, aber das ist bloße Gewohnheit. Tatsächlich hat sich Surkow immer stärker dem etwas liberaleren Medwedew angenähert.
Bemerkenswert ist das Verhalten von Alexej Kudrin, der Putin länger als ein Jahrzehnt treu als Finanzminister gedient hat. Beide sind Freunde seit gemeinsamen Tagen in der Sankt Petersburger Stadtverwaltung Anfang der neunziger Jahre. 2011 aber geht Kudrin auf die Demonstranten zu. Er hält sogar eine Rede. Er bricht darin freilich nicht mit dem Kreml, offenbart den Regierungsgegnern allerdings, er teile »ihre negativen Gefühle in Bezug auf die Ergebnisse der Parlamentswahl in unserem Land«.
Im Fernsehen tauchen Sendungen auf, deren Ton gegenüber Putin so kritisch ist wie seit Jahren nicht. Beim Gazprom-Sender NTW heißt es, die von Putins Fans gerade erst gedruckten Putin-Kalender seien für ein Zehntel des ursprünglichen Preises zu haben, niemand wolle sie kaufen. Putins Umfragewerte lägen nur noch bei 44 Prozent, vor einem Jahr seien es noch 70 Prozent gewesen.
Der Moderator reißt sogar Witze über Putins jährliche Live-Fragestunden im TV, die immer monotoner werden: Die letzte hat rekordverdächtige vier Stunden und 32 Minuten gedauert. Putin »trennt immer weniger von den weltweiten Rekordhaltern in Sachen Dialog mit dem Volk«, spottet NTW – und blendet im Hintergrund ein Bild von Kubas greisem Revolutionsführer Fidel Castro ein. Zum Abschluss vergleicht der Moderator Putin dann noch mit der Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch, die ihre Opfer hypnotisiert, um sie dann zu verschlingen.
Für einen Moment wirkt es so, als könnten sich Teile der Eliten in Politik und Medien auf die Seite der Demonstranten stellen. Es bleibt zwar nur ein Strohfeuer: Die Redakteure der NTW-Sendung verlassen den Kanal, Surkow tritt zurück in Reih und Glied. Der Kreml zieht dennoch seine Schlüsse.
Der Text ist ein Auszug aus Benjamin Bidders Buch „Generation Putin. Das neue Russland verstehen“, das am 12. September bei DVA, Verlagsgruppe Randomhouse erschienen ist.